Zitate von
Hans-Joachim Maaz – Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Argon Verlag Berlin 1990
Wikipedia: Von 1980 bis zu seinem Ruhestand 2008 war er Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle. Dort entwickelte er psychoanalytische, tiefenpsychologische und körperpsychotherapeutische Therapieformen, vor allem im Bereich der stationären
Gruppenpsychoanalyse. Unter dem Dach der Kirche konnte er relativ unabhängig vom DDR-Regime arbeiten.
Mit diesem Buch konnte Maaz endlich - nachdem die DDR-Bürger die Freiheit des Westens hatten - unbefangen öffentlich werden bzgl. vieler menschlicher Fragen, die sich im Rahmen des
„real existierenden Sozialismus“ für ihn aufwarfen. Doch sind die dabei entwickelten grundsätzlichen Fragen nicht nur Sozialismus-spezifisch sondern überhaupt sozusagen ‚zivilisationsrelevant‘. Ich will
es kurz machen, und zunächst darstellen, worin meiner Ansicht nach seine Hauptidee besteht:
Das wirklich Fundamentale ist der Drive der Zivilisation, die Menschen zu Handlangern des Gesellschafts-Systems zu ‚erziehen‘. Der Erziehungbegriff
offenbart hier seine doppelte Bedeutung: einerseits ist er – im wissenschaftlichen Sinne - ganz allgemein das Verhalten, um (insbesondere junge) Menschen zu ‚sozialisieren‘, d.h. sie mit der Welt (besonders die gesellschaftliche) in geistige und körperliche Verbindung zu bringen – gleichgültig wie das jeweils vor sich geht. Andererseits wird jedoch der Erziehungsbegriff ganz speziell verwendet, nämlich jemanden in eine der diversen systemspezifischen Frauen- bzw. Männer-Rollen als ‚System-Person‘ hinein zu sozialisieren. Insofern eine Zivilisation militaristisch nach Außen und hierarchisch nach Innen strukturiert ist, hat sie einen Rollen-Zuschnitt, der mit gewisser Wahrscheinlichkeit eine verwaltende Erziehung in Richtung dieser Rollen erheischt – und mit entsprechend geringerer Wahrscheinlichkeit eine liebevolle Erziehung an und für sich. Diese verwaltende Vorstellung von Erziehung (ich nenne sie formalisierend Erz-1 im Gegensatz zu Erz-0) ist es, die den Menschen von seinem eigenen Selbst ‚entfremdet‘: von seinen natürlichen Bedürfnissen (a) nach echter mitmenschlicher Geborgenheit und Anerkennung, (b) nach Neugier und eigenständiger Entwicklung körperlicher und geistiger Art. – So kann sich bei Erz-0 eine gemeinschaftliche Synchronizität und synergetische Effektivität ergeben, welche die Beteiligten prinzipiell frei, anmutig, froh und glücklich machen kann – was bei Erz-1 so nicht der Fall ist.
Es ist Maaz zu danken, dass er in dieser Hinsicht radikal denkt. Denn was auf ihn als Psychoanalytiker zukommt, sind solche, gemäß Erz-1 am authentischen eigenen Leben gehinderten,
also mehr oder minder entfremdeten Psycho-Krüppel.
Und diese bilden die Mehrheit der gegebenen zivilisatorischen Gesellschaft. Und nun komme ich zum Entscheidenden: deshalb soll man sich eigentlich nicht wundern über massenhaft unterbaute, sozusagen individuell unterfütterte, gesellschaftliche Irrationalitäten. Um das jetzt etwas näher zu beleuchten, suche ich nach interessanten Zitaten bei Hans-Joachim Maaz in diesem Buch.
Da ist schon mal der erstaunliche Widmungsspruch (Seite 7):
Gewidmet den Menschen,
die den Weg der psychischen Revolution gehen
<Die sogenannte „Entnazifizierung“, wie auch die Proklamation des Endes der Stalinismusära (wie es Gysi auf einem Sonderparteitag der SED nach der „Wende“
demagogisch behauptete) sollten vor allem vertuschen, daß die große Mehrzahl der Deutschen damals und heute begeisterte Täter oder wenigstens bereitwillige Mitläufer waren.>(S. 12)
< „Die Parole „Plane mit, arbeite mit, regiere mit!“ war der blanke Hohn, denn jede Initiative von unten blieb nicht nur ohne sinnvollen Effekt, sondern hat den eigenständig
Mitdenkenden und Handelnden fast automatisch zum Provokateur, Unruhestifter, „Weltverbesserer“ (konnte ein einzelner denn bessere Erkenntnisse haben als die allmächtige Partei?) gestempelt.
So lief man sich mit innovativer Aktivität und Kreativität nicht nur wund, sondern wurde regelmäßig diffamiert, belehrt und eingeschüchtert.> (S. 13)
<In diesem System konnte nur halbwegs unbehelligt leben, wer sich anpaßte und das heißt, wer seine spontane Lebendigkeit, seine Offenheit und Ehrlichkeit, seine
Kritikfähigkeit dem öden und einengenden, aber relativ ungefährlichen Leben eines Untertanen opferte.> (S. 17)
<Da diese [privilegierten; M.A.] Familien praktisch in einem sozialen Ghetto lebten, war die einseitige Ausrichtung garantiert. Klassisches bürgerlich
-humanistisches, christliches und geisteswissenschaftlich-philosophisches Gedanken- oder Erfahrungsgut blieben damit ausgesperrt oder wurden arg verkürzt und tendenziös interpretiert. Die Erziehungsideale solcher
Familien waren Unterordnung, Disziplin, Anstrengung und Leistung. Letztlich war der Grad der charakterlichen Deformierung der Maßstab für die Karriere im Staats-
und Parteiapparat, aber auch für alle leitenden Posten innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil selbst die Prominenz in Kunst, Kultur
, Wissenschaft, Wirtschaft und Sport – also alle Leistungsträger der Gesellschaft – den Unterwerfungsakt unter die Linie der Partei mit allen deformierenden
Auswirkungen auf die Seele und Moral vollziehen mußten.> (S. 18)
>Zu den Mechanismen der Macht gehörten Propaganda und Demagogie. Die beschwörenden Behauptungen (Antifaschismus, Friedenspolitik, „Im Mittelpunkt steht
der Mensch!“, „Alles zum Wohle des Volkes!“) sollten die gegensätzliche Wahrheit verbergen. Psychologisch gesehen, war dies der Abwehrmechanismus „Verkehrung
ins Gegenteil“. Die Verheißungen sollten die verletzten Seelen trösten und einen pseudoreligiösen Halt bieten.> (S. 18/19)
<Die zahlenmäßig wirklich wenigen und in ihrer politischen Bedeutung harmlosen oppositionellen Gruppen waren mitunter so stark mit Stasi-Mitarbeitern und Spitzeln unterwandert
, daß die Arbeit solcher Gruppen zusammengebrochen wäre, wenn sich alle Sicherheitskräfte zurückgezogen hätten.> (S. 20)
<Jede Personaleinstellung im Staatsapparat, in den höheren Leitungsfunktionen der Wirtschaft, der Wissenschaft und Kultur brauchte die Zustimmung dieser
Behörde, (…).> (S. 22)
<Ihr Auftrag war, oppositionelle Gruppen durch Schüren von Konflikten zu zersplittern, zu lähmen, zu isolieren und zu desorganisieren. Sie waren gefordert, bestimmte
Personen systematisch in Mißkredit zu bringen (…).> (S. 22/23)
<Die entscheidenden Fragen: Wie sind die Beziehungen zwischen Mutter und Kind? Wie sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau? Wie ist die Geschlechterfrage in
der Gesellschaft wirklich geklärt? wurden peinlich gemieden. Die Diskussion um die Bedeutung der frühen Kindheit, der Mutter-Vater-Kind-Beziehung war in der Öffentlichkeit ja tabuisiert oder regelrecht falsch
dargestellt und psychoanalytische Erkenntnisse waren systematisch ferngehalten oder als „bürgerlich-dekadente Irrlehre“ verteufelt worden.> (S. 32)
<Den Eltern mangelte es häufig an Wissen, aber mehr noch an Intuition für den Umgang mit ihren Kindern. Die psychische Deformierung vieler Eltern, ob als Folge der
Erziehung im faschistischen oder im „sozialistischen“ Deutschland hatte ihre Einfühlungsgabe in die Bedürfnis- und Erlebniswelt ihrer Kinder erheblich beeinträchtigt. Da
sie auf diese Weise die innere Führung für die Beziehung zu den Kindern weitestgehend verloren hatten, brauchten sie jetzt äußere Orientierungshilfen, die sie sich als
autoritative Ratschläge bei Ärzten, Psychologen, Lehrern und aus Büchern holten oder eben als allgemeingültige Regeln und Normen unkritisch übernahmen.> (S. 33)
<Das kindliche Bedürnis nach Lieben und Geliebtwerden wurde im allgemeinen schwer frustiert: vor allem schon dadurch, daß die Eltern weder genügend zur Verfügung
standen noch Verständnis dafür hatten, daß Kinder ein eigenes aktives Liebesbedürfnis haben könnten. Unsere therapeutische Praxis hat uns immer wieder gezeigt, daß
viele Eltern vor den Liebesgefühlen ihrer Kinder Angst hatten (…).> (S. 35)
<Liebe im Sinne bedingungsloser Annahme (Du bist da und ich hab‘ dich gern!) mußte als absolute Seltenheit angesehen werden. Dafür waren die Mütter in der Regel
selbst nicht genug liebesgesättigt, (…).> (S. 35)
<So ist niemals richtig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen, daß die Medizin eine immens repressive Rolle in der DDR spielte. Sie tat dies vor allem immer dann,
wenn Beschwerden und Kranksein zu „Krankheiten“ organisiert wurden und die illusionäre Hoffnung einer medizinischen Behandlung angeboten wurde, wo in Wirklichkeit seelische und soziale Faktoren eines
entfremdeten und verfehlten Lebens die Störung hauptsächlich verursachten. So trug die Medizin dazu bei, gesellschaftliche und psychosoziale Konflikte als Krankheitsursache zu verschleiern und die Chance der
Erkenntnis und Lebensveränderung zu behindern statt zu fördern.> (S. 40)
<Die Bescheinigung, daß Mütter zur Pflege erkrankter Kinder von der Arbeit freigestellt wurden und zu Hause bleiben konnten, wurde oft sehr großzügig angewendet
und führte unweigerlich dazu, daß über „Krankheit“ die Kinder ihr vernachlässigtes Recht auf mütterliche Anwesenheit und Zuwendung einklagen konnten.> (S. 42)
<In der DDR-Medizin dominierte insgesamt ein naturwissenschaftlich-reduktionistisches Denk- und Handlungsmodell.> (S.43)
<Dies soganannte „wissenschaftliche“ Haltung führte auch zur Überbewertung der Heilungschancen über Medikamente mit allen unweigerlichen Komplikationen
durch Nebenwirkungen. (…) Sehr viele medizinische Behandlungen beschränkten sich dann nur noch auf Verordnung von Medikamenten.> (S.45)
Ich überspringe jetzt das Kapitel „Die autoritäre Entbindung“ (S.46-48), wiewohl ich selber das Thema keineswegs als unwesentlich erachte. Zur Rolle der
Kirchen bringe ich nur einen Satz, da er mir typisch erscheint:
<Damit [gemeint ist die Standortbestimmung der ev. Kirche 1971 „ausdrücklich als Kirche im Sozialismus“] war ein Kurs angedeutet, der nunmehr unter sozialistischem Vorzeichen
die protestantische Untugend der Staatsfrömmigkeit aufscheinen ließ.> (S.51)
Als nächstes komme ich zum ‚Mangelsyndrom‘ und seinen Folgen.
<Folgen solche [gesellschaftlichen; M.A.] Normen nicht mehr natürlichen Prozessen, sondern werden von wirtschaftlichen, militärischen oder ideologischen Interessen dominiert, sind
massenweise Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse und normaler menschlicher Empfindungen die unweigerliche Folge.> (S.57)
<Daher wird er [der Mensch; M.A.] im wesentlichen von den Beziehungserfahrungen, die er mit Mutter und Vater macht, geprägt, und die frühen Erfahrungen unter der
Geburt, als Säugling und als Kleinkind sind von größter Bedeutung für seine Entwicklung und Charakterbildung.> (S.57)
<Die Charakterdeformierungen sind als solche nicht immer leicht zu erkennen. Es kann durchaus der Fall sein, daß die Deformierung allgemein wird und dann für
„normal“ gehalten wird. Genau dies will ich für die Verhältnisse im „real existierenden Sozialismus“ herausarbeiten. In diesem System konnte man nur mit
einer charakterlichen Deformierung halbwegs überleben, gesundes Verhalten wäre unweigerlich bestraft worden; Gesundheit meint in diesem Zusammenhang: Offenheit,
Ehrlichkeit, Eigenständigkeit, Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung, Mut zu eigenen Positionen und zu kreativen Leistungen, auch gegen den Strom der Mehrheit
– also alles Eigenschaften, die in der DDR als subversiv galten und mit Nachdruck jedem einzelnen ausgetrieben wurden.> (S.59/60)
<Auch gehört zu jedem Patienten ein pathogenes Umfeld (Partner/-in, Familie, Kollegenkreis, Institutionen), was durch systemisches Denken und Analysieren erschlossen
werden kann.> (S.60)
<Umweltdaten unterlagen der Geheimhaltung, was nicht anders gedeutet werden kann, als daß der Staat mit vollem Wissen seinem Volk Schaden zugefügt hat.> (S.61)
<“Wir sagen dir, was du denken, fühlen, sagen und tun darfst“: Das war das Credo einer verschworenen Übereinstimmung von Eltern, Lehrern, Erziehern, Ärzten,
Pastoren und der Partei- und Staatsfunktionäre. „Kein Widerspruch“ war die allgemeine Haltung, das „richtige Bewußtsein“ wurde permanent abverlangt. Losungen
und Parolen begleiteten den Alltag und wurden über die Medien eingehämmert, Experten-Meinung galt als unantastbar, und Belehrungen, was „rechter Glaube“ sei, waren nicht selten.> (S.63)
<Entfremdete Menschen können sich meist nur noch in entfremdeten Verhältnissen „wohlfühlen“. Bessere, freiere und natürlichere Umstände würden sie
unweigerlich mit ihrer Entfremdung, Blockierung und Spaltung konfrontieren, was sehr ängstigend und beunruhigend sein würde, also verständlicherweise auf jeden Fall vermieden werden möchte. Wer will schon
Schmerzliches freiwillig auf sich nehmen? So wird lieber an abnormen Strukturen festgehalten oder solche werden immer wieder aktiv erzeugt, als daß man sich auf einen bitteren Erkenntnisprozeß einläßt
, (…). (S.68)
<Die ehemals äußeren Unterdrücker (Eltern, Staat, Kirche) haben erst dann ihre Arbeit richtig geleistet, wenn die Unterdrückung zu einem inneren Prozeß geworden ist,
der jetzt vom Gewissen und von der eigenen Moral und Ideologie beherrscht wird.> (S.70)
<So machen erfolgs- konsum- und besitztüchtige Menschen immer wieder die Erfahrung, daß weder Ruhm noch Macht noch Wohlstand einen wirklich zufriedenen Zustand bedeuten
.> (S.71)
<Viele Menschen wähnen sich auf diese Weise als gesund und edel und können ihre Entfremdung gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie ja angeblich Dinge tun, die im
Wertesystem ein hohes Ansehen genießen.> (S. 71)
<War es aber in der Therapie möglich, die Spaltung allmählich zu überwinden, den Zugang zu den Gefühlen wiederzufinden und vor allem Ausdrucksmöglichkeiten
für sie zu schaffen, wurde in der Regel ein ganz tief verborgener Kern der Persönlichkeit erkennbar, der vor allem Liebe, Nähe, Offenheit, Ehrlichkeit und unverstellte
Daseinsberechtigung wünscht. Dieses Begehren war als ungestillte Sehnsucht lebendig, wenn auch als ganz innerstes Geheimnis gehütet.
Gerade die gestauten Gefühle schützten normalerweise den verborgenen „Kern“, wobei Ängste eine sehr große Rolle spielten. So ließen sich in jedem Fall bei der Analyse
unserer Patienten Angst vor Nähe, Angst vor Liebe, Angst vor Freiheit und Angst vor Frieden diagnostizieren!
Würde in der Gegenwart tatsächlich die Erfahrung von Liebe, Nähe, Freiheit und Frieden geschehen, würde damit zugleich unweigerlich die Erinnerung an die lieblosen
und repressiven Erlebnisse in der eigenen Lebensgeschichte aktiviert werden, und das Ergebnis wäre Schmerz und Trauer statt Freude und Entspannung über die endlich sich erfüllenden Sehnsüchte.> (S.78/79)
<Die noch stärker Leistungsorientierten strebten dann nach einem Eigenheim oder einer Datsche. Nicht selten kam es nach Fertigstellung des Eigenheimes zu
psychosomatischen und psychischen Störungen oder zu einer Ehekrise. Der Bau hatte viele Jahre alle Kräfte gebunden und Spannungen weggeschoben, nun saß man in der guten Stube und wußte mit sich nichts mehr
anzufangen. Der innere Mangel trat wieder hervor, von dem man sich durch die Anstrengungen des Hausbaues so geschickt hatte ablenken können: (…).> (S.84)
<Der permanente Betrug hatte sich auch im gesellschaftlichen Leben überall breitgemacht: Schönfärberei, gefälschte Statistiken, Konfliktverdrängung,
Harmonisierung, Verleugnung alles Negativen, Tabuisierung wesentlicher menschlicher Themen gehörten unvermeidbar zur Lebensweise. Die öffentlichen Verlautbarungen und Darstellungen im Fernsehen, im
Rundfunk und in den Zeitungen waren so lächerlich phrasenhaft und nichtssagend, so offensichtlich verzerrt und verlogen, so plump und primitiv mit den klassischen Abwehrvorgängen von Verdrängung, Verleugnung,
Projektion, Ungeschehenmachen und Verkehrung ins Gegenteil behaftet, daß das Land täglich von einem einzigen Lachkrampf oder Ekelanfall hätte erschüttert sein müssen. Aber nichts dergleichen geschah, man gewöhnte
sich einfach an das Böse und Schlechte.> (S.92)
<Die Rollen fordern vor allem die soziale Maske und verstärken damit die Spaltung der Persönlichkeit.> (S.102)
<Durch die fast sterotypen Abläufe von Verhaltensmustern wird der Verlust an Spontaneität und Entscheidungsfreiheit entschädigt mit der relativen
Sicherheit eines Lebens in festen Bahnen und geordneten Regeln. Auf diese Weise wird verlorengegangene oder unterdrückte Vitalität nicht mehr als Mangel erlebt, sondern die vorhandene Einengung und Deformierung
wird zur Voraussetzung, um eine bestimmte Rolle auszufüllen.> (S.102)
<Für Menschen im Mangelsyndrom und im Gefühlsstau bieten soziale Rollen die ideale Möglichkeit, in den geforderten Aufgaben und gebotenen Verhältnissen sich einzurichten
, und damit von den inneren Spannungen weg - die eigentlichen Wünsche und Sehnsüchte vergessend – Erfolg und Bestätigung in der möglichst perfekt ausgefüllten Rolle zu erfahren.> (S.103)
<Es ist mir wichtig herauszuarbeiten, daß man unsere autoritäre Gesellschaft nicht einfach in Täter und Opfer unterteilen konnte
, daß vom “Virus“ einer pathologischen Gesellschaftsdeformierung schließlich jeder erfaßt wurde und in jeder sozialen Position Anteile des Täters und des Opfers verteilt waren (…).> (S.104)
<Die operativ tätigen Geheimpolizisten waren im Erscheinungsbild leicht auszumachen. (…) Diese Leute fielen durch ihre ausgesprochen (ost-) modisch korrekte
Kleidung und den sportlich-eleganten sowie strebsam-gemütsarmen Habitus auf.> (S.114)
<Die Karrieristen dagegen [d.h. im Vergleich zu den „Edelkommunisten“; M.A.] waren wie ein abgestorbener Baum: In der kommunistischen Hülle, doch innerlich hohl,
ohne Saft und Kraft, da ihre Haltung nicht wirklich von echter Überzeugung getragen und aus der erlebten Erfahrung gereift war. Sie arbeiteten vor allem für sich, für
ganz egoistische und ehrgeizige Ziele. Und sie waren vor allem Knechte ihres Mangelsyndroms.> (S.117/118).
<Sie [die Mitläufer; M.A.] traten nie groß hervor, hielten sich immer zurück, wurden sie öffentlich etwas gefragt, gaben sie einsilbige und brave Antworten: „Nur nicht
auffallen!“ war die Devise. Sie lebten sich in gewisser Weise im verordneten Kleinbürgertum aus, in den kleinen privaten Nischen wie es Datsche, Schrebergarten und Hobbys ermöglichten. Da
entwickelte sich durchaus noch etwas Ehrgeiz, sie waren stolz auf einen kleinen Wohlstand und auch auf Wohlanständigkeit bedacht.> (S.119)
<Kommen die Oppositionellen an die Macht, wird wachsam zu beobachten und zu kontrollieren sein, was von den verkündeten Ideen auch real umgesetzt und
gelebt wird. Sind das Mangelsyndrom und der Gefühlsstau Antriebe ihres Handelns, werden sie bald die neuen Verhältnisse nach ihren inneren Strukturen gestalten und
„neuen Wein in alte Schläuche“ füllen. (S.123)
<Die gefühlte Empörung und Wut, der empfundene Haß sind der einzige Weg, auch zur eigenen Schuld vorzudringen und wirklich zur Vergebung fähig zu werden
. Ohne einen solchen Prozeß notwendiger Klärung und Reinigung ist eine Neuorientierung nicht denkbar.> (S.169)
<Bei meiner Arbeit war mir immer wieder das „faschistische“ Potential aufgefallen, das durch eine „sozialistische“ Erziehung und Gesetzgebung in keiner
Weise vermindert worden war.> (S.187)
<Ich verstand auch, weshalb eine Wissenschaft vom Unbewußten, wie die Psychoanalyse, allen Autoritäten - Eltern, Staat, Kirche – suspekt sein mußte und folgerichtig
auch verpönt und verboten wurde.> (S.188)
<Die Annahme des Mangelsyndroms war mir erst möglich, als ich emotionalen Zugang zu meinem eigenen inneren Mangel gefunden hatte und Wut und Schmerz halbwegs
wieder leben lassen durfte. Ich lernte jetzt die Folgen des Mangelzustandes verstehen, weshalb es zu Entfremdung von der Natürlichkeit, zur Spaltung der Persönlichkeit
und zu Blockierung der Emotionalität kommen mußte. Alles dient dem Schutz vor den bitteren Erfahrungen der Seele. Ich begann zu begreifen, weshalb Menschen mit
sich, untereinander und mit der Natur so zerstörerisch, gefühllos und irrational umgingen. Statt zu fühlen wurde agiert.> (S.188/189)
<Auch die intrigante Gehässigkeit und die meist zynisch-arroganten und indirekt-feindseligen Angriffe, mit der irgendein „Andersartiger“ in der Gruppe als Opfer für
die eigene Verunsicherung herhalten mußte, gehört zu unseren bitteren Erfahrungen. Die „Verfolgung der Juden“ war als möglicher Abwehr- und Projektionsmechanismus
ungetrübt vorhanden und zwar so tief „eingefleischt“ und mit solcher Inbrunst vollzogen, daß Aufklärung überhaupt keine Wirkung hatte. Deutungen wurden zwar angehört aber fünf Minuten später wurde das gleiche
„Verfolgungsspiel“ fortgesetzt. Diese Situation war sehr gefährlich, weil Sündenböcke ausgesondert, seelisch und moralisch „vernichtet“ werden konnten.> (S.207)
<Die Erinnerung an die Schuld unserer Eltern, die reale Verfolgung und Vernichtung der Juden, drängte sich uns unweigerlich auf, weil erkennbar wurde, daß die
psychologischen Wurzeln dieses Verbrechens unverändert fortbestanden und bei „geeigneten“ Bedingungen jederzeit wieder aktiviert werden konnten. Dazu bedurfte es nur einer Situation allgemeiner
Verunsicherung und Labilisierung gewohnter Verhaltensweisen, vor allem wenn autoritäre Führung fehlt und der inneren Not des Mangelsyndroms der Zuchtmeister „Unterdrückung“ verloren zu gehen drohte. (…)
Dann mußte ein „Prügelknabe“ her, der irgendetwas bot oder Phantasien ermöglichte, wogegen jetzt mit Überzeugung gekämpft werden konnte. (…) also ein
Feindbild propagandistisch aufgebaut wurde, konnte die eigene innere Not „dankbar“ auf vermeintliche Schuldige abgewälzt werden.> (S.208)
<Uns war klar, daß diese ungeheuren Kräfte für die Feindbild- und Sündenbockmechanismen der Ausdruck für innerseelische Not und Angst waren.> (S.209)
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