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Projekt 'Argumentation'

Lady Bracknell: ... I dislike arguments of any kind. They are always vulgar, and often convincing. (Oskar Wilde: The Importance of Being Earnest, S.55 von 58)

Karl R. Popper in ‚Objektive Erkenntnis‘  (Hoffmann & Campe 1973):

< Die letzte und höchste Funktion, die ich in dieser Übersicht erwähnen möchte, ist die argumentative Funktion der Sprache, wie sie in ihrer höchsten Entwicklungsstufe in einer disziplinierten kritischen Diskussion auftritt.

Die argumentative Funktion der Sprache ist nicht nur die höchste der vier Funktionen, mit denen ich mich hier beschäftige, sondern sie entwickelte sich auch als die letzte. Ihre Entwicklung war eng verbunden mit der einer argumentativen, kritischen und rationalen Einstellung; und da diese Einstellung zur Entwicklung der Wissenschaft geführt hat, können wir sagen, daß die argumentative Funktion der Sprache das vielleicht wirksamste Instrument zur biologischen Anpassung geschaffen hat, das je im Verlauf der organischen Evolution entstanden ist. (S.282f., Über Wolken und Uhren) >

 

 

Definition:

Argumentation is a verbal, social, and rational activity aimed at [anstrebend] convincing [überzeugen] a reasonable critic [einen vernünftigen Beurteiler, Bewerter] of the acceptability [Annehmbarkeit] of a standpoint by putting forward [vorbringen] a constellation [Vereinigung] of propositions [Behauptungen, Aussagen, Thesen] justifying [begründen, rechtfertigen] or refuting [widerlegen, anfechten] the proposition expressed in the standpoint.

(Frans H. van Eemeren, Rob Grootendorst: A Systematic Theory of Argumentation. The pragma-dialectical approach. S.1, Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom, 2004)

Slightly verbesserte Definition auf Deutsch: Argumentation ist eine sprachliche, soziale und rationale Aktivität, bei der es darum geht, einen vernünftigen, kritischen Menschen von der Annehmbarkeit einer Behauptung zu überzeugen. Dies geschieht, indem man eine Konstellation von Aussagen vorträgt, die geeignet ist, die These des vorgetragenen Standpunktes begründend zu rechtfertigen. Mit der Begründung einer Gegenthese soll jener Standpunkt andererseits widerlegt werden.

 

Hinweis: Es lohnt sich übrigens auch, ein oder zwei Blicke in das folgende instruktive Büchlein der ‘ScienceFiles’ zu werfen: “Kritische Wissenschaft. Ein Grundsatzprogramm”. 2012, Dr. habil. Heike Diefenbach & Michael Klein, insbesondere ab Seite 10.

 

 

29.11.09

 

Projekt ‚Argumentation’ (Einleitung)

 

Man muß davon ausgehen, daß es keineswegs selbstverständlich ist – auch nicht bei Menschen unseres Kulturkreises – daß man Argumentationsfähigkeit bei seinem Gegenüber voraussetzen kann. Das ist etwa analog zu den Analphabeten – auch diese gibt es in unserer Kultur, wenn auch (nach meiner Vermutung) weniger zahlreich als Argumentationsunfähige (AUF’s). Das sollte ein Argumentationsfähiger (AF) wissen, wenn er sich in irgendeinem heillosen Rede- oder gar Schrei-Gewurstel mit jemandem befindet, der einfach nicht verstehen will, worum es geht.

Diese Ansicht scheint auch Josef Kopperschmidt zu vertreten, wenn er schreibt: “In der Regel sind Menschen weit mehr an ihren eigenen Meinungen und deren faktischer Geltung interessiert als an dem argumentativen Legitimitätsnachweis ihrer Meinungen.” (Kopperschmidt, J. in: Argumentationstheorie zur Einführung, Dresden 2000, S. 8)

Schopenhauer hatte im 19. Jhdt. offenbar ebenfalls diese Erfahrung gemacht:

Aus dem „letzten Kunstgriff“ der Eristischen Dialektik Schopenhauers (siehe Projekt Gutenberg):

<Die  einzig  sichere  Gegenregel  ist  daher  die,  welche  schon  Aristoteles  im  letzten  Kapitel  der  Topica giebt:  Nicht mit  dem  Ersten  dem  Besten  zu  disputiren,  sondern  allein  mit  Solchen,  die  man  kennt,  und  von  denen  man  weiß, daß  sie  Verstand  genug  haben,  nicht  gar  zu  Absurdes  vorzubringen  und  dadurch  beschämt  werden  zu  müssen; und  um  mit  Gründen  zu  disputiren,  und  nicht  mit  Machtsprüchen,  und  um  auf  Gründe  zu  hören  und  darauf einzugehn;  und  endlich,  daß  sie  die  Wahrheit  schätzen,  gute  Gründe  gern  hören,  auch  aus  dem  Munde  des Gegners,  und  Billigkeit  genug  haben,  um  es  ertragen  zu  können,  Unrecht  zu  behalten,  wenn  die  Wahrheit  auf  der andern  Seite  liegt.  Daraus  folgt,  daß  unter  100  kaum  Einer  ist,  der  werth  ist,  daß  man  mit  ihm  disputirt.  Die Uebrigen  lasse  man  reden,  was  sie  wollen,  denn  desipere  est  juris  gentium [denn unklug zu sein ist das Recht der Massen; oder schöner noch auf Englisch: for every one is at liberty to be a fool],  und  man  bedenke,  was  Voltaire  sagt: La  paix  vaut  encore  mieux  que  la  véritè [Der Friede ist mehr wert als die Wahrheit],  und  ein  arabischer  Spruch  ist:  »Am  Baume  des  Schweigens  hängt  seine Frucht,  der  Friede.«

Das  Disputiren  ist  als  Reibung  der  Köpfe  allerdings  oft  von  gegenseitigem  Nutzen,  zur  Berichtigung  der  eignen Gedanken  und  auch  zur  Erzeugung  neuer  Ansichten.  Allein  beide  Disputanten  müssen  an  Gelehrsamkeit  und  an Geist  ziemlich  gleich  stehn.  Fehlt  es  dem  Einen  an  der  ersten,  so  versteht  er  nicht  Alles,  ist  nicht  au  niveau .  Fehlt es  ihm  am  zweiten,  so  wird  die  dadurch  herbeigeführte  Erbitterung  ihn  zu  Unredlichkeiten  und  Kniffen,  endlich  zur Grobheit  verleiten.>

 

AUF’s sind in mancherlei Hinsicht – in der modernen abendländischen Zivilisation jedenfalls -  arme Schweine, die aber oft genug den Anspruch haben, ernst genommen zu werden und mitreden zu können. Auf der pragmatischen Ebene sollte man sie keineswegs unterschätzen, da können sie oft genug beträchtliche Leistungen erbringen. Das macht die Sache paradox, denn aufgrund ihrer praktischen Leistungsfähigkeit auf diversen Gebieten, erwarten sie auch Mitspracherecht an Stellen, an denen Argumentation gefragt ist. Da muß man aber einen klaren Riegel vorschieben. Wer die Kulturtechnik der Argumentation nicht beherrscht, hat auf vielerlei Gebieten (z.B. Universität, Rechtswesen, Politik) so wenig was verloren, wie ein Nichtschwimmer im tiefen Wasser. Was allerdings leider nicht verhindert, daß AUF’s sich auch dort einnisten können - vor allem auf dem Gebiet der Politik, wie das üble Schicksal des Bundestagspräsidenten Jenninger mit seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag beweist: Ein Teil des Hohen Hauses (und auch der öffentlichen Hetz-Meinung) war offenbar unfähig, zwischen Darstellung von Sachverhalten (z.B. in Zitaten) und der persönlichen Meinung des Redners zu unterscheiden. Vermutlich war auch einigen besonders konservativen und einflußreichen Nationalisten seiner Fraktion (CDU/CSU) jene ausgezeichnete Darstellung der NS-Zeit nicht recht, sonst hätte Jenninger nicht anschließend seinen Hut nehmen müssen. (Siehe dazu auch die Tabelle ideologischer Argumentation: Trick No.1). Bei Josef Kopperschmidt findet diese merkwürdige - oder vielleicht sogar bezeichnende - Episode bundesrepublikanischen Demokratie-Verständnisses (wonach jemand in einem der höchsten Staatsämter, der es bei Gott gut meinte, einfach mir nix dir nix schutzlos hinausgeekelt werden konnte) folgendermaßen Erwähnung:

<Der im Nachhinein als Feldexperiment nutzbare Versuch von Ignatz Bubis, Philipp Jenningers berühmt gewordene Rede vom 10. November 1988 wörtlich zu wiederholen, spricht für sich: Die gleiche Rede, die den einen zum Rücktritt nötigte, brachte dem anderen viel Applaus ein.> (S.67) Kopperschmidt, J. Argumentationstheorie, Dresden 2000)

 

Aber nicht immer müssen AUF’s sich selber in Sachen einschleichen, bei denen sie nix zu suchen haben. Öfters sind andere auch auf sie angewiesen und so kann es ein echtes Problem werden, wenn man einem oder mehreren AUF’s ausgeliefert ist (beispielsweise als intelligentes Kind solchen Eltern; oder ein Mann, der mit so einer Frau liiert ist; oder Untertanen einem Potentaten). -  Ich weiß nicht, ob AUF’s vorwiegend nur  relativ harmlose Flippies sind, die einen zwar oft genug voll abnerven können, oder ob es nicht auch eine großzahlige, wirklich gefährliche Variante der AUF’s gibt, z.B. wenn sie ein höheres Amt innehaben (ich denke paradigmatisch an Kaiser Wilhelm II.). Das müßte meiner Ansicht nach noch genauer geklärt werden.

 

 

Das also sollte hier zur Eröffnung dienen.

 

 

Argumentationsfähigkeit (AFä) ist einerseits das stärkste und andererseits das schwächste Glied der  Zivilisationstechniken des Abendlandes. Es ist das stärkste Glied, weil die gesamte Wissenschaft und Technik in entscheidendem Maße darauf beruht – und ein Teil der Philosophie ebenfalls. Es ist das schwächste Glied, als die Masse der Menschen, denen die Ergebnisse von Wissenschaft & Technik zur Verfügung gestellt werden, entweder mit Argumentation nix am Hut hat, oder Argumentation in Form von haltloser Pseudo-Argumentation lediglich für subjektive Interessen-Zwecke und/oder  Durchsetzung autoritärer Verhältnisse  zu mißbrauchen sucht. (Siehe dazu en detail “Tricks ideologischer Argumentation”). Nur eine kleine Minderheit ist bereit, ehrliche Argumentation voll ernst zu nehmen. Was nutzen also alle Errungenschaften des objektiven argumentativen Geistes, die sich im Laufe von Jahrhunderten in Wissenschaft, Philosophie und Technik angehäuft und materialisiert haben, wenn irgendein AUF, wie Kaiser Wilhelm (der die Massen hinter sich hat) oder ein argumentativer Scharlatan wie Hitler (der gleichfalls die Massen hinter sich hatte), daherkommt und die ganze Geschichte gründlichst vermasselt?

Heutzutage gehört das Erlernen von Argumentation zum Unterricht höherer Schulen, die zur Hochschulreife führen. Man nennt das gerne auch „Erörterung“. Ich kenne es von früher als „Dialektischer Besinnungsaufsatz“. Das ist in jedem Fall schon ein gutes und sehr sinnvolles Unterfangen, auch wenn es vielleicht durch formelle tödliche Langweile eines Spießer-Lehrer-Unterrichts, wie so vieles (Geschichte, Mathematik usw.), zumindest teilweise hinterrücks erdolcht wird.

 

Wenn ich gutgemeinte heutige Lehrerskripte zur Argumentation im Internet durchlese, bin ich doch erschrocken, wie stark selbst da, bei diesen Experten,  immer noch eine Ungebildetheit in Bezug auf AFä hindurchschimmert. Das macht mir klar, daß diesbezüglich eine genauere Reflexion noch nicht zum Standard höherer Bildung gehört.

 

 

Historisches

 

 

Die Argumention wurde von den Griechen (ab ca. 500 v.Chr.) erfunden und stellte sich in der grandiosen griechischen Beweismathematik dar, wie sie vollendet mit dem Werk Euklids über die Geometrie (ca. 3oo v.Chr.) an die Menschheit überlieferte wurde. Argumentation ist Beweis - oder jedenfalls der Versuch eines Beweises! Es geht nicht um irgendein Geschwätz, eine Phantasterei, sondern um (möglichst) unumstößliche Denkergebnisse, indem man Argumentationsketten entwickelt, die in späteren Zeiten als ‚logisch’ bezeichnet wurden. Wobei ‚Argumentation’, nur in gewissen Fällen auf ‚formale Logik’ reduzierbar ist, auch wenn manche schlaubergerische und elitäre Formalisten behaupten: haltbares Denken sei nur rein formelles logisches Denken. Die stringente logische Beweisführung, ist nur ein Spezialfall von Argumentation (und muß selbst im Falle der Mathematik keineswegs formelhaft ‘formal-logisch’ stattfinden, sie kann oft genug auch - bis auf sinnvolle Abkürzungen - weitgehend sprachlich und/oder anschaulich stattfinden, vgl. den Torricelli-Beweis auf dieser Website).  Während der (strenge) mathematische Beweis es auf 100%-ige Gewißheit anlegt, ist die Mehrheit aller beweishaften Argumentationen lediglich auf Plausibilität angelegt. Das Ergebnis der Argumentation (oder einer argumentativen Behauptung) kann die unterschiedlichsten Arten von Plausibilität aufweisen wie z.B. “wahrscheinlich”, “vermutlich”, “mit ziemlicher Sicherheit”, “zweifelsohne”, “möglicherweise”, usw.

Diese äußerst faszinierende Erfahrung, daß man durch plausibel schlußfolgerndes Denken in Form von argumentativer Rede und Gegenrede schließlich zu mehr oder minder haltbaren Ergebnissen kommen kann, muß wohl auch den Athener Sokrates (um 400 v.Chr.) angeregt haben, der diese ursprünglich aus der griechischen Geometrie stammende Erfahrung nun auf menschliche Gegebenheiten von Glück und Gerechtigkeit anwenden wollte. Das ist ihm meiner Ansicht nur schlecht gelungen. Aber die Idee war da. Sein Schüler Platon hat das übernommen und diesen Gedanken in die ‘Akademie’ als eine ihrer wesentlichen Grundlagen aufgenommen. Platons Schüler Aristoteles hat ihn als Argumentationstheorie (Dialektik) und Syllogistik (Logik) weiterentwickelt. Es war offenbar ein wichtiger Schritt in der Geistesentwicklung, das logische Denken der griechischen Beweismathemathik auf alle möglichen Gebiete von Natur und Leben auszudehnen - wenn auch meist nicht in der vollkommen stringenten Form mathematischer Beweise, so doch aber in Form mehr oder minder plausibler Argumentationen auf Basis der logischen Norm der Widerspruchsfreiheit. Viel von dem, was sich in der Geschichte der abendländischen Philosophie (und in ihrem Gefolge der Wissenschaften) ereignete, hat von diesem Paradigma seinen Lebenshauch erhalten.

So meint Carl Friedrich Gethmann: <...nur im Abendland ist jedoch das Projekt einer auf Dauer gestellten zweckrationalen Erzeugung von Weisheit entwickelt worden, nämlich durch ihre Institutionalisierung und Professionalisierung, durch Philosophie.> (S. 269). Gethmann, C.F. in: Philosophie und Begründung, stw 673, Ffm 1987, darin der Aufsatz: Letztbegründung vs. lebensweltliche Begründung des Wissens und Handelns, S.268-302.

 

Man entwickelte im Gefolge gewisse Regeln des Disputierens (Dialektik), die jenem schlußfolgernden und begründenden Denken und Argumentieren Genüge leisten sollten. Offenbar hatten die Philosophen in der späteren griechischen Antike (lt. Wikipedia) (damals natürlich sicher mehr als dies heute der Fall wäre) das Problem der Abgrenzung vor sich: wen lassen wir überhaupt zu, mitzudisputieren?  Wir können doch nicht jeden Willkür-Schwätzer (auch wenn er noch so reich sein sollte) zu unseren argumentativen Disputationen zulassen! Da muß es doch ein Kriterium geben, wer dazu gehört, und wen wir leider ausschließen müssen.

 

Das Ausschließungskriterium kann man geradezu genial nennen. Jeder macht erst mal einen Kurs in Dialektik mit. - O.K. Lehrjahre. Jetzt die Prüfung: Wenn er nun in einem größeren Plenum auftreten und mitdiskutieren will, kann er aufgefordert werden, doch bitteschön genauer darzulegen, was sein Vorredner denn eigentlich sagte, auf den er sich beziehen will mit seiner Rede (oder das Thema darzulegen, um das es dem Vorredner ging). Er muß dann solange versuchen, genau das zu erfassen, was jener Vorredner sagte, bis jener einverstanden ist mit der Darstellung seiner Ansicht. Falls das nicht gelingt, wird er abserviert. Er darf jetzt erst mal nix mehr sagen zu dem Thema. - Hier erst kommt zum Vorschein, daß es einen Unterschied gibt zwischen einem zuhörungsbegabten AUF, der durch den Dialektik-Kursus zum AF wird, und einem fundamentalen AUF: Für einen fundamentalen AUF nutzt auch die schönste formelle Erlernung von Argumentationstechnik nix, weil er nicht richtig zuhören kann.

 

Warum finde ich dieses Ausschließungskriterium genial? Weil hier offenbar ein Wissen, eine Erfahrung drin steckt, daß ein fundamentaler AUF nicht richtig zuhören kann, was jemand wirklich sagt. Warum ist das so? Bei einem fundamentalen AUF sind seine Phantasien, die sich beim Zuhören herausbilden, unkontrolliert. Er glaubt platt an sie wie an göttliche Eingebungen. Er bringt sie nicht in selbst-kritische Verbindung zu dem wirklich Gesagten oder zu dem Thema, um das es geht (damit ist hier nichts gegen Phantasien als solche gesagt, lediglich gegen unkontrollierte Phantasien). Deshalb kann er nicht genauer zuhören (oder letzteres ist vermutlich sogar die tiefere Ursache seiner Argumentationsunfähigkeit). Er unterstellt jetzt dem Vorredner seine eigenen unkontrollierten Phantasieprodukte, gegen die sich der Vorredner natürlich zu Recht wehrt. Doch der Fundi-AUF will davon gar nix hören, das hält er für Belästigung und für Behinderung seiner eigenen wunderbaren Ideen. – Deshalb muß er aufgefordert werden, doch nun mal zu versuchen, genauer zu wiederholen, was sein Vorredner sagte, bzw. was hier Thema ist. Wenn er das nicht will und schließlich auch nicht kann, ist er als Fundi-AUF entlarvt und sollte schnellstens erst mal entlassen werden.

In einem ausgezeichneten Arbeitsbuch für Gymnasial-Lehrer “Werkstoff Sprache” wird in dem Abschnitt “Diskussion” (S.166-178) auch auf  “Ausweichmanöver” (S. 173f.) eingegangen. Dabei scheinen die Autoren die Möglichkeit einer prinzipiellen Argumentationsunfähigkeit allerdings nicht in Betracht zu ziehen. Eines der von ihnen angeführten Ausweichmanöver (9.) lautet: “Begründete Angriffe ohne Betroffenheit hinnehmen und so herunterspielen”. - Hätte man die Idee der Argumentationsunfähigkeit mit in Betracht gezogen, so hätte sich dafür auch ein weiterer Grund außer  “herunterspielen” finden lassen. Nämlich, daß ein AUF ja gar nicht den Wertstandpunkt der Argumentation einnimmt, und deswegen keinerlei Betroffenheit spürt, wenn ihm begründete Argumente (beispielsweise Widersprüchlichkeit, widersprechende Fakten usw.) zu seinen Behauptungen entgegengehalten werden. Denn nur auf der Basis von Wertstandpunkten kann man ein spezifisches Gewissen und damit spezifische Betroffenheit entwickeln. Der AUF braucht also gar nichts “herunterzuspielen”, weil ihn die ganze Sache sowieso nix angeht.  (Werkstoff Sprache, Achermann/Ehlen: Deutsch Sekundarstufe II. , 4. Aufl., Verlag H. Stam, Köln-Porz, 1986).

 

Nebenbei wird hier deutlich, daß ein AUF beim Lesen eines anspruchsvollen (wissenschaftlichen oder philosophischen) Textes nicht das gleiche macht wie ein AF. - Ein AUF kann solch einen Text gar nicht richtig lesen, weil er  beim angeblichen ‚Lesen’ sogleich seine unkontrollierten Phantasien an Stelle des realen Textes einsetzt und sie über den Text dominieren läßt (statt sie selbstkritisch zu kontrollieren und an den Text, soweit haltbar, interpretativ anzupassen versucht; vgl. dazu auch “Voraussetzung für Argumentationskunst”) – und dann dreist behauptet: „Ja, klar, ich habe den Text gelesen!“ (und natürlich auch verstanden).

 

Wer also einem AUF einen Brief schreibt, in welchem er etwas argumentativ darlegt, sollte um Gottes willen nicht hoffen, daß er  in seinem Anliegen verstanden wurde, geschweige daß ihm überhaupt ernsthaft zugehört wurde – und in dementsprechenden Vorstellungen schwelgen („Dem hab ich’s aber gezeigt!“). Beim AUF kommt was gänzlich anderes an, als das was der AF ihm in noch so goldenen und präzisen Worten bzw. prächtigen Beweisführungen oder Argumentationen darlegen wollte. Bestenfalls klaubt sich der AUF ein einziges, ganz allein ihm wesentliches, Detail heraus, das nun in gänzlich falscher Sichtweise interpretiert wird. Aber was heißt hier ‚interpretiert’? lediglich als Phantasievorlage benutzt wird!

 

 

Ich frage mich bei dieser einführenden Erörterung, ob es nicht gewisse genetische ‚Linien’ gibt. Zu welchen rudimentären Argumentationen, sozusagen Ursprungsargumentationen, Primitivformen der Argumentation, ist vielleicht ein AUF, insbesondere ein Fundi-AUF in der Lage? Was AUF’s in jedem Fall gut können ist, Personen zu ‘etikettieren’ (beispielsweise als aggressiv oder genial), d.h. ‘falsch Zeugnis abzulegen’ -  ohne tiefere Klärung eines Sachverhaltes, beispielsweise der jeweiligen Interaktion. Was AUF’s, glaube ich, außerdem gerne machen, ist zu gleichgewichten als erste Primitivform der Argumentation: „Du machst das aber auch!“. „Du machst und ich mache, wir beide machen also “ - das ist ja schon so eine Art erste Schlußfolgerung. Da wird natürlich noch nicht die Bohne von überprüft, ob wirklich beide das Gleiche machen noch überhaupt definiert, was denn nun das angeblich Gleiche sei. - Eine typische Denk-Form des AUF ist des Weiteren, Sachdarstellungen mit persönlicher Meinung des Darstellenden in einen Topf zu werfen, was im Extremfall (wenn der AUF die Macht dazu hat)  zur archaischen ‘Hinrichtung des Boten schlechter Nachrichten’ führen kann. (Vgl. dazu auch meine Tabelle ideologischer Argumentationen, Trick Nr.1)  – Was wäre noch eine weitere Primitivform? Die falsche Darstellung, um was es dem anderen angeblich geht, als Behauptung: darum gehe es ihm aber – nur weil es, vor allem dem Fundi-AUF, so in seinen phantastischen Kramladen paßt. (Siehe auch Trick No.11) – Eine weitere Denkform des AUF und gleichzeitig Primitivform der Argumentation scheint mir zu sein, wenn irgendwas Reelles (das wehtut) ‚abgewehrt’ wird, wie das z.B. bei den psychoanalytischen Abwehrmechanismen beschrieben wird. (Vgl. dazu auch meine Tabelle ideologischer Argumentationen, Trick Nr.2, ‘Datenverdünnung’). Fundi-AUF’s können auch gut angebliche Autoritäten gegen einen produktiven Menschen ausspielen. Obwohl sie weder von den Autoritäten noch von dem produktiven Menschen, den sie kastrieren wollen, eine wirkliche Ahnung haben.

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Für Leute, die nicht wahrhaben wollen, dass die Mehrheit der Menschen auch in aufgeklärten Staaten AUF’s sind, hier noch ein interessantes Zitat:

THE ART OF
LOGICAL THINKING
OR
THE LAWS OF REASONING

By WILLIAM WALKER ATKINSON

 

L.N. FOWLER & COMPANY
7, Imperial Arcade, Ludgate Circus
London, E.C., England

1909
THE PROGRESS COMPANY
CHICAGO, ILL.

  

<While everyone reasons [schlußfolgern], the fact is equally true that the majority of persons reason incorrectly. Many persons reason along lines far from correct and scientific, and suffer therefor and thereby. Some writers have claimed [behauptet] that the majority of persons are incapable of even fairly correct reasoning, pointing to the absurd ideas entertained [erwogen] by the masses of people as a proof of the statement. These writers are probably a little radical in their views and statements, but one is often struck with wonder at the evidences of incapacity for interpreting facts and impressions on the part of the general public. The masses of people accept the most absurd ideas as truth, providing they are gravely [ernsthaft] asserted by some one claiming [in Anspruch nehmend] authority. The most illogical ideas are accepted without dispute or examination, providing [vorausgesetzt daß] they are stated solemnly [feierlich] and authoritatively. Particularly in the respective fields of religion and politics do we find this blind acceptance of illogical ideas by the multitude [die Menge]. Mere assertion by the leaders seems sufficient for the multitude of followers to acquiesce [einwilligen, zustimmen]. (S.8 f.)>

William Walker kannte also schon 1909 das Wesentliche des Milgram-Experimentes, wenn auch nicht so klar und prozentual bewiesen.

Das Buch ist übrigens als e-book kostenlos erhältlich bei ‘Project Gutenberg’  - Jezze (spätestens 2019 nicht mehr, wegen irgendeines  dt. Gerichtsbeschlusses. Cool, ne?)

 

 

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Nun heißt das aber leider nicht, daß ein schon irgendwie in der Argumentation Gefestigter, nicht dennoch rückfällig sein kann. Im Zweifelsfall kann auch ein argumentativ fähiger Mensch zwischendurch platt in Abwehrmechanismen und Ideologien verfallen. Da muß einer schon verdammt gefestigt sein diesbezüglich, und ehrliche Argumentation als wesentliches Lebenselixier wirklich ernst nehmen, um jedem sozialen Druck und sonstigen psychischen Versuchungen standhalten zu können.

 

Um die Erörterung der Historie von Argumentation vorläufig abzuschließen: Ich glaube nicht, daß die AFä die abendländische Gesellschaft wirklich durchdrungen hat. Sie hat die Gesellschaft quantitativ bestenfalls teilweise bei geistig anspruchsvollen Menschen erreicht und qualitativ nur zu einem kleinen Teil das, was an sich notwendig wäre, nämlich stichhaltige, haltbare, ehrliche Argumentationsfähigkeit. Es gilt meiner unbescheidenen Ansicht nach, sich nicht selbstzufrieden zurückzulehnen, sondern offensiv dieses Thema voranzutreiben.

 

Nach meiner Ansicht sind die Herausforderungen (beispielsweise Umwelt- und Lebens-Probleme), der durch systematische Argumentation entstandenen Technik und ihre Anwendung durch rationalisierten (aber selber wieder ideologisch anfälligen) Ökonomismus nur zu bewältigen, indem nicht nur eine kleine Elite von Wissenschaftlern, Philosophen und sonstigen Gebildeten, sondern tendenziell die gesamte Gesellschaft ebenfalls systematisch und ernsthaft argumentativ wird. Ansonsten kommt es meiner Ansicht nach notgedrungen zu  mehr und mehr Scheiße und schließlich am Ende gar womöglich zu einer extra Giganto-Super-Scheiße. Denn was kann man von einer Riesenmasse von argumentativ lethargischen Menschen anderes erwarten, als daß sie  unkritisch alles laufen lassen, wie es nun einmal offiziell so ist? Und was kann man wirklich ändern, ohne wenigstens einen relevanten Teil dieser Riesenmasse argumentativ (nicht revolutionär-dogmatisch!) in Bewegung zu setzen?

 

Aber es gibt, glaube ich, eine Menge schlaue, ideologisch denkende Leute (z.B. ideologielastige Professoren, Abgeordnete, Geheimdienstbeamte, Herren & Damen der Wirtschaft), die sich zugehörig zur oberen Kaste fühlen, denen es überhaupt gar nicht ins (wahrscheinlich nie von ihnen kritisch hinterfragte!) Konzept paßt, wenn möglichst viele Leute ihren eigenen Kopf sinnvoll benutzen würden. Es reicht ja schon, wenn die ‚falschen’ Leute (beispielsweise Wallraff) sich in Sachen einmischen, die sie nichts angehen. Und diese ‚Krankheit’ soll sich auch noch unkontrolliert seuchenartig ausbreiten? Das führt ja wohl zu weit!

 

 

(Der von mir verwendeten Ideologie-Begriff wird auf auf der Site ideologische Argumentation in der Einleitung näher erläutert).

 

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Zum Kapitel (1) - Argumentationskunst Teil  1 Grundvoraussetzung

 

 

 

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