Feb. 2010
Argumentationskunst - Teil 2
Für was ist Realismus gut?
Diese interessante Frage frug mich mehrmals jemand, den ich bezüglich seines Größenwahns, und seiner damit korrespondierenden
Unfähigkeit realistisch zu argumentieren, kritisierte. Mein letztes Wort (sozusagen mein Axiom) war ja im Grunde immer dasselbe: „das ist nicht realistisch“. Mit der Aufforderung also an ihn, doch realistisch
zu werden. Seine Frage, für was denn Realismus gut sei, konnte ich ad hoc nicht beantworten. Ich war dieser Frage gegenüber geradezu perplex!
Wenn jener Größenwahnsinnige statt realistischer Argumentation lediglich
eine Phantasie als ‚geniale’ Erleuchtung produzierte, die für ihn die letzte Weisheit darstellte, so hatte er allerdings den Anspruch, jene Phantasie für baare Münze zu nehmen, sie also für Realität zu halten. (Vielleicht hatte er eine Göttliche Eingebung?) - Er glaubte dann fest daran. – Aber es interessierte ihn sodann nicht die Bohne die Frage, ob diese Phantasie denn nun auch tatsächlich realitätshaltig ist oder inwieweit wiederum nicht. Solcherlei kritische Fragen hielt er für eine impertinente Rechthaberei Ihm gegenüber, wonach jemand (ein nicht-Genie, ein nicht-Erleuchteter) diese seine kritische Arme-Leute-Ansicht als die einzig wahre hinstellen will und somit das Wirklich Wissende Wesen, mit der Erhabenheit Seiner Einsicht, nicht gelten lassen, sondern in seinen Kritikaster-Schmutz hinunterziehen will.
Die Sache ist in der Tat in sich schlüssig. Wer nicht argumentieren kann, der muß
(logischerweise) auf eine analoge Weise nullsummenmäßig verfahren!
Für was also soll Realismus gut sein?
Man kann natürlich auf den Erfolg der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens rekurrieren, der ja ohne die Rückwendung auf
das Axiom des Realismus, d.h. der Orientierung an der Empirie, nicht denkbar ist.
Zum Vergleich:
Man kann auch auf der Basis argumentieren (d.h. als Axiom der Argumentation), ob etwas schicklich ist, oder den bestehenden Mächten gefällt oder besonders schön klingt, niemanden verletzt, diplomatisch ist, mir gute Gefühle vermittelt usw. Doch unter ‚Argumentation’ im eigentlichen Sinne möchte ich hier Argumentation auf der Basis des Realismus, d.h. mit dem Anspruch auf Realismus, verstanden wissen. Das ist ja auch meines Wissens die übliche philosophische und erst recht wissenschaftliche Verwendungsweise des Begriffs ‚Argumentation’.
Man muß die realistische Argumentation als Grundlage des ‚Realismus’ ansehen. Erst wer realistisch mit anderen argumentiert
, der bemüht sich darum, ein Realist zu sein. Realismus und Argumentation gehören in einer unlösbaren wechselwirkenden Einheit zusammen. Jemand der, beispielsweise als Filmheld, ohne Argumentation schon immer
sofort genau weiß, was der Fall ist (etwa als Kriminal-Psychologe sofort die Situation ‚durchschaut’) ist für mich einfach eine unglaubwürdige Figur. Realismus kommt in der Regel erst durch gemeinsame
sachkundige (empiriehaltige) argumentative Beratung zustande – Irrtümer und ihre (nicht selten zähe!) Überwindung gehören dabei regelmäßig mit zum Spiel.
Trotzdem bleibt immer noch die Frage: Für was ist Realismus gut?
Für einen Größenwahnsinnigen, der aufgrund seiner subjektivistischen Illusionen diverse tolle Glückserlebnisse hat, ist
natürlich der Realismus Gift. Er würde ja sein Glück zerstören.
Für viele Andere, die z.B. schicklich sein, oder den bestehenden Mächten gefallen wollen oder besonders schön harmonisch
daherkommen, niemanden verletzen, diplomatisch sein wollen, in einer Religionsgemeinschaft aufgehoben, m.a.W. in einer Pseudo-Gemeinschaft leben wollen, um dadurch glücklich zu sein, ist ebenfalls der Realismus und sein spezifischer Argumentationsanspruch Gift.
Interessanterweise sehen die Argumentationswissenschaftler Eemeren und Grootendorst eher einen Zusammenhang zwischen Argumentation
und Unglücksvermeidung als zwischen Argumentation und Glücksstreben. Ihr Modell einer “kritischen Diskussion” hat als “Position” eine Art “negativen Utilitarianismus”:
Rather than [eher als] achieving the greatest possible happiness, the general aim is achieving the least possible [die geringst
mögliche] unhappiness. (A systematic theory of argumentation, Cambridge 2004, S. 188).
D.h. ich will gegenüber einem unbedachten Glücksstreben darauf beharren, daß der Realismus, indem er vor Illusionen bewahren kann,
das eigene Leben und erst recht das Zusammenleben mit anderen, erträglicher gestalten kann, als eine unrealistische Lebensform.
(Vgl. zum Thema Glück auch: Glücksstreben vs. Vermeidung von Unglück
)
Beispiele:
1. Ein Realist wird weniger schnell freiwillig in den Krieg ziehen als ein Illusionist mit Kriegsbegeisterung. Oder sich
auch weniger schnell an eine scheinbar attraktive Berufskarriere verkaufen, weniger schnell auf eine scheinbar attraktive Beziehung als Ehepartner einlassen. Weniger schnell sich auf Kinderwunsch, Autokauf,
Häusle-Bauen und sonstige Konventionen einlassen.
2. Der dezisionistische, sich auf seine Subjektivität verlassende Größenwahnsinnige wird
irgendwann (‚hintenrum’) von strukturellen (beispielsweise gesellschaftlichen) Realitäten erwischt, ihm wird der Boden unter den Füßen weggezogen, und er ist darauf kein bißchen gefaßt. Mit seinem
(illusionären) Glück ist es dann weitgehend vorbei. (Was übrigens einen kritischen Blick auf das Glücks-Axiom im Vergleich zum Realitäts-Axiom als Lebensgestaltungsprinzip in sich birgt).
3. Die schicklichen, harmonistischen, diplomatischen Pseudo-Gemeinschafts-Menschen werden in der Regel, oder vielleicht sogar
notwendigerweise, aufgrund von unvereinbarer Widersprüchlichkeit in ihren Lebensvorstellungen und sozialen Rollen (‚hintenrum’) von psychosomatischen und/oder Beziehungs-Leiden heimgesucht, die sie nicht
durchschauen und erst recht nicht bearbeiten können, denn Ihnen fehlt das meiner Ansicht nach hierfür unumgängliche Werkzeug realistischer Argumentation. Ihre Fähigkeit zur Argumentation hatten sie ja bislang
weniger kritisch als affirmativ eingesetzt..
Ich habe fast den Eindruck, als sei mit diesen drei Beispielen der Rahmen der negativen Sachverhalte bezüglich unrealistischer
Haltung (eines Individuums) tatsächlich schon prinzipiell abgesteckt.
Erst recht wird diese Frage des Realismus relevant in Bezug auf Institutionen und Gesellschaften. Auch hier gibt es jede Menge
Probleme, die darauf hinweisen, daß (‘feiger’) Realismus in der Regel und auf Dauer die bessere Einstellung ist, gegenüber einem irrationalen jedoch ‘mutigen’ (glücksverheißenden) Dezisionismus.
Ich denke z.B. an den Dezisionismus der griechischen Militärjunta 1974, um mit einem Offiziers-Putsch das Makarios-Regime in Cypern zu beseitigen und somit endlich klar Schiff zu schaffen, um Cypern an Griechenland anzuschließen, wo es verdammt noch mal schon immer hingehörte. - Da kann man nur sagen: “Gut gebrüllt Löwe!” Aber das Ergebnis war, daß die Türkei anschließend (übrigens mit seit 1960 zugebilligtem verfassungsmäßigem Interventions-Recht) den Nordteil Cyperns besetzte und zur Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung Cyperns aufrief. Da dies natürlich zu dieser Zeit griechischerseits kein irgendwie zuständiges Schwein interessierte, kam es zur dauerhaften Besetzung Nordcyperns durch die Türkei. Daraufhin wurde anschließend die griechische Militärjunta von ihren eigenen Griechen aufgrund dieses offenbar unerwarteten ‘Fiaskos’ zum Teufel gejagt.
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Zum Kapitel (3) - Argumentationskunst Teil 3. Spielregeln von Argumentation
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