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Projekt Argumentation
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(7.1) Glücksstreben vs. Vermeidung von Unglück
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(7.1) Glücksstreben vs. Unglücksvermeidung

30.09.12

 

Glücksstreben vs. Vermeidung von Unglück

 

In der Argumentationstheorie stößt man manchmal auf dieses Thema ohne daß es genauer geklärt würde. Beispielsweise bei Frans H. van Eemeren und Rob Grootendorst: „A Systematic Theory of Argumentation. The pragma-dialectical approach”, Cambridge (UK) 2004, S.188 Anm.4. Dort heißt es bezüglich der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit von kritisch-argumentativer Diskussion:

<This position could be characterized as „negative utilitarianism“. Rather than achieving the greatest possible happiness, the general aim is achieving the least possible unhappiness.>

Oder etwas anders formuliert: Es geht den Anhängern des kritisch rationalistischen Ideals nicht um das größtmögliche Glück, sondern um das Erreichen des geringst möglichen Unglücks.

 

Als weiterer Hinweis wäre zu nennen das „Projekt Argumentation“, speziell Kapitel 2 „Für was ist Realismus gut?

 

Eine zum Kern des Themas hinführende, aber noch nicht wirklich klärende Auseinandersetzung findet man bei Wolfgang Weimer: Logisches Argumentieren, Reclam Bd. 15056, Stuttgart 2005. Im letzten Abschnitt (18) vor den Übungsaufgaben rätselt der Autor über „Wert und Unwert des logischen Denkens“. S.181 kommt er zu folgender interessanten Feststellung:

<Wir stecken anscheinend in einer Falle – und mit 'wir' meine ich jetzt nicht nur die Anhänger des Nachdenkens, sondern ebenso seine Kritiker: die einen sind außerstande, das zu tun, was man ihnen empfiehlt (zu lieben statt nachdenken), und die anderen können nicht klar machen, warum man das tun sollte, ohne das zu tun, was man nach ihrer Ansicht gerade nicht tun sollte. Bei diesem Patt können es die Gegner belassen (falls sie das möchten): Wir haben dann auf der einen Seite Leute, die Fragen stellen und diese Fragen mit Logik und Argumenten zu beantworten versuchen, und auf der anderen Seite Leute, die keine Fragen stellen, sondern glauben, hoffen und lieben möchten, die schon das Infragestellen für falsch und gefährlich halten, die das aber nicht begründen können, sondern einfach behaupten.

Es hat den Anschein, daß wir uns angesichts dieser Kontroverse für die eine oder die andere Seite entscheiden müssen – vielleicht grundsätzlich, vielleicht aber auch von Fall zu Fall.>

Wolfgang Weimer kommt schließlich zu der Entscheidung, daß die Annahme der Gleichgewichtigkeit dieser beiden Seiten sehr bedenklich ist, da es seiner Ansicht nach keinen Lebensbereich gibt, in welchem es keinen Grund für Zweifel und vorsichtige Prüfung gibt, da nichts frei ist von der Möglichkeit zu „Mißbrauch, Lüge und Eigennutz“ (S. 185). Der Standpunkt, die andere, unkritische Seite hätte ihr eigenes gutes Recht, sei „geeignet nur für Menschen, die sich zu einem hohen Maß an Gutgläubigkeit (inklusive aller damit verbundenen Risiken) entscheiden möchten.“ (S. 185)

 

Dies sollte als Einführung in mein Thema angesehen werden.

Es ist natürlich klar, daß die 'kritischen Rationalisten' genügend gute Gründe für ihren Standpunkt aufführen können – und offenbar nicht verstehen können, wie man nur so blöd sein kann, diesen Standpunkt nicht einzunehmen. Es gibt jedoch meiner Ansicht nach einen äußerst gewichtigen Grund für den Gegenstandpunkt des 'unkritischen Anti-Rationalisten': er allein birgt in sich die Möglichkeit der psychischen Glückserfüllung. Vermeidung von Unglück ergibt noch kein vollgültiges Glückserleben. Die dadurch herstellbare Zufriedenheit ist noch kein wirkliches Glücksgefühl. D.h. ich sehe hier tatsächlich einen Gegensatz zweier Wertstandpunkte, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Wer sich für das eine entscheidet, entscheidet sich gleichzeitig gegen das andere. - Ich werde versuchen das anhand verschiedener Beispiele zu erläutern.

 

1. Ich fange mit einem ganz einfachen Beispiel an: Essen & Trinken. Wenn man sich keine Gedanken macht über Kalorien, Fett, Zucker, Salz, Alkohol, Pflichtversäumnis usw. kann es für einen normalen jungen Mann, der nicht verwöhnt ist, ein Glücksgefühl auslösen, wenn er in einer besonderen Umgebung was besonderes zu Essen und zu Trinken zu sich nimmt. Sobald er jedoch über Kalorien, Fett, Zucker, Salz, Alkohol, Pflichtversäumnis usw. nachdenkt und kritisch ist, wird er kein Glücksgefühl beispielsweise bei einer wunderbaren Flasche Wein zusammen mit erlesenen Nüssen in einer besonders schönen Umgebung bei sonnigem Septemberwetter empfinden, während er gleichzeitig seine Pflicht als Student versäumt. Er wird stattdessen, wenn er kritisch ist, seine Pflicht an der Uni erfüllen, zwischendurch schnell in der Mensa essen und dabei ein gesundes Mineralwasser trinken. Das macht ihn zufrieden.

 

Der rationalistische Kritiker wird dagegen zu recht einwenden: ok. Das unkritische Essen & Trinken ging jahrelang gut, aber sein hedonistischer Lebensstil, von dem er sich auf keinen Fall abbringen ließ, hat ihn in mittleren Jahren korpulent gemacht und im Alter zu erheblichen Gesundheitsproblemen geführt.

 

2. Es geht jetzt um die 'Liebe'. Eine hübsches madonnenhaftes Mädel wird von einem romantischen jungen Mann 'angebetet'. Sie läßt sich nach einiger Zeit voll auf ihn und die 'Große Liebe' ein, auch wenn ihre Eltern, ihre ältere Beraterin sowie eine gute Freundin negativ gegen den jungen Romantiker eingestellt sind. Sie ist für 1 ½ Jahre ausgesprochen glückselig – abgesehen von ein paar Wermutstropfen. Eine andere angebetete Madonna, ein paar Jahre vorher, die jedoch kritisch gegenüber dem jungen Mann eingestellt war, hat diese Glückseligkeit in ihrem Leben versäumt. Sie fand den jungen Mann zwar irgendwie interessant, aber sie wollte was solid-bürgerliches als Mann.

 

Der rationalistische Kritiker wird zu recht einwenden: ok. Das ging ja eine kurze zeitlang gut mit der 'Großen Liebe', doch dann kam das lange Große Unglück nach dem Motto: „Plaisir d'amour ne dure que un moment, chagrin d'amour dure toute la vie.“ (Die Freuden der Liebe dauern nur einen Augenblick, das Leid der Liebe ein Leben lang).

 

3. Es geht jetzt um Politik. Die wilhelminische Ära hat bekanntermaßen die Bevölkerung mit ihrem Tschingderassabum, ihrem 'Sedantag', Gedenken an die Völkerschlacht von Leipzig, den Kaiserbesuchen allerorten, einen Enthusiasmus für Uniformen und Waffen hervorgerufen. Militarismus und Nationalismus sowie Kolonialismus und das Kaisertum wurde von den Volksmassen (bis auf kritische Ausnahmen vor allem seitens der Sozialdemokratie) als heilig empfunden. Auch die Kirche (zumindest die protestantische) war mit von der Party. Kaiser Wilhelm II. war allem Anschein nach in keinerlei Hinsicht angehaucht von kritisch rationalistischem Denken, offenbar war er ein 'kritikloser Anti-Rationalist', sodaß er sich 1914, zusammen mit der Nation (einschließlich sogar der meisten sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag; vgl. ‘Burgfriedenspolitik’), bei passender Gelegenheit mit Übermut in einen Zweifrontenkrieg hineinstürzte. Die Kriegsbegeisterung war 1914 vielerorten überwältigend. (Vgl. dazu Stefan Zweig). Die ganze offizielle Nation war in einem glückseligen Rausch voller Siegeseuphorie.

 

Der rationalistische Kritiker wird zu recht einwenden: ok. Das ging ja eine ganze zeitlang gut mit der freudigen Berauschung an Militarismus, Nationalismus und Kaisertum. Auch der Kriegsanfang hat vor allem viele bürgerlich-akademische Leute in eine außergewöhnliche Hochstimmung versetzt. - Doch dann? 1918 war finito und ein großer Jammer über Niederlage, Millionen Tote, Kriegskrüppel, Hunger, Not & Elend.

 

4. Ganz ähnlich war Hitler offenbar ein 'kritikloser Anti-Rationalist' als er seine Einmärsche und Kriege ab 1936 anzettelte. Seine Triumphe über die besiegten und unterjochten Völker sollten ihn wohl allem Anschein nach glückselig machen. Vgl. dazu auch sein feierliches Schwelgen - zusammen mit seinem Architekten Albert Speer - in den architektonischen Plänen nach dem ‘Endsieg’, beispielsweise Entwurf der “Welthauptstadt Germania”.

Zusammen mit dem ‘Führer’ war die große Masse des deutschen Volkes ebenso kritiklos und euphorisch besessen. Man lese z.B. den Bericht eines Soldaten über glückliche Sudetendeutsche beim Einmarsch der deutschen Truppen 1938.

 

Als ‘kritischer Rationalist’ in bezug auf diese damaligen Geschehnisse ab 1939 kann der Zeitzeuge Friedrich Kellner mit seinen kritischen Tagebüchern dienen. Vgl. Friedrich Kellner (Autor), Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Ricke, Markus Roth (Hrsg.): „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“ Tagebücher 1939-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2011.

 

Interessanterweise konnte Hitler auch anders – oder wenigstens so tun: da war er einmal (angeblich?) kritischer Kriegsgegner 1935:

Auszug aus der Rede Hitlers vor dem Deutschen Reichstag am 21. Mai 1935:

(...)

Dieses neue Deutschland kann daher nicht in Vergleich gebracht werden mit dem Deutschland der Vergangenheit. Seine Ideen sind ebenso neu wie seine Handlungen. Der Geist des bürgerlichen Hurrapatriotismus ist als politisch bestimmender Faktor genau so überwunden wie die Tendenzen des marxistischen Internationalismus. Wenn das heutige Deutschland für den Frieden eintritt, dann tritt es für ihn ein weder aus Schwäche noch aus Feigheit. Es tritt für den Frieden ein aus einer anderen Vorstellung, die der Nationalsozialismus von Volk und Staat besitzt.

Denn dieser sieht in der machtmäßig erzwungenen Einschmelzung eines Volkes in ein anderes wesensfremdes nicht nur kein erstrebenswertes politisches Ziel, sondern als Ergebnis eine Gefährdung der inneren Einheit und damit der Stärke eines Volkes auf lange Zeit gerechnet. Seine Lehre lehnt daher den Gedanken einer nationalen Assimilation dogmatisch ab. Damit ist auch der bürgerliche Glaube einer möglichen "Germanisation" widerlegt. Es ist daher weder unser Wunsch noch unsere Absicht, fremden Volksteilen das Volkstum, die Sprache oder die Kultur wegzunehmen, um ihnen dafür eine fremde, deutsche aufzuzwingen. Wir geben keine Anweisung für die Verdeutschung nichtdeutscher Namen aus, im Gegenteil - wir wünschen dies nicht. Unsere volkliche Lehre sieht daher in jedem Krieg zur Unterjochung und Beherrschung eines fremden Volkes einen Vorgang, der früher oder später den Sieger innerlich verändert und schwächt und damit in der Folge zum Besiegten macht.

Wir glauben aber auch gar nicht daran, daß in Europa die durch und durch national erhärteten Völker im Zeitalter des Nationalitätenprinzips überhaupt noch national enteignet werden könnten!

Die letzten 150 Jahre bieten hier belehrende und warnende Beispiele mehr als genug. Die europäischen Nationalstaaten werden bei keinem kommenden Krieg - abgesehen von vorübergehenden Schwächungen ihrer Gegner - mehr erreichen können als geringfügige und im Verhältnis zu den dargebrachten Opfern gar nicht ins Gewicht fallende volkliche Grenzkorrekturen.

Der permanente Kriegszustand, der aber durch solche Absichten zwischen den einzelnen Völkern aufgerichtet wird, mag verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Interessenten vielleicht als nützlich erscheinen, für die Völker bringt er nur Lasten und Unglück. Das Blut, das auf dem europäischen Kontinent seit 300 Jahren vergossen wurde, steht außer jedem Verhältnis zu dem volklichen Resultat der Ereignisse. Frankreich ist am Ende Frankreich geblieben, Deutschland Deutschland, Polen Polen, Italien Italien. Was dynastischer Egoismus, politische Leidenschaft und patriotische Verblendung an scheinbaren tiefgreifenden staatspolitischen Veränderungen unter Strömen von Blut erreicht haben, hat in nationaler Beziehung stets nur die Oberfläche der Völker geritzt, ihre grundsätzliche Markierung aber wesentlich kaum mehr verschoben. Hätten diese Staaten nur einen Bruchteil ihrer Opfer für klügere Zwecke angesetzt, so wäre der Erfolg sicher größer und dauerhafter gewesen.

Wenn ich als Nationalsozialist in allem Freimut diese Auffassung vertrete, dann bewegt mich dabei noch folgende Erkenntnis: Jeder Krieg verzehrt zunächst die Auslese der Besten. Da es in Europa aber einen leeren Raum nicht mehr gibt, wird jeder Sieg - ohne an der grundsätzlichen europäischen Not etwas zu ändern - höchstens eine ziffernmäßige Vermehrung der Einwohner eines Staates mit sich bringen können. Wenn aber den Völkern daran soviel liegt, dann können sie dies, statt mit Tränen, auf eine einfachere und vor allem natürlichere Weise erreichen.

Eine gesunde Sozialpolitik kann bei einer Steigerung der Geburtenfreudigkeit einer Nation in wenigen Jahren mehr Kinder des eigenen Volkes schenken, als durch einen Krieg an fremden Menschen erobert und damit unterworfen werden könnten.

Nein! Das nationalsozialistische Deutschland will den Frieden aus tiefinnersten weltanschaulichen Überzeugungen. Es will ihn weiter aus der einfachen primitiven Erkenntnis, daß kein Krieg geeignet sein würde, das Wesen unserer allgemeinen europäischen Not zu beheben, wohl aber diese zu vermehren. Das heutige Deutschland lebt in einer gewaltigen Arbeit der Wiedergutmachung seiner inneren Schäden. Keines unserer Projekte sachlicher Natur wird vor 10 bis 20 Jahren vollendet sein. Keine der gestellten Aufgaben ideeller Art kann vor 50 oder vielleicht auch 100 Jahren ihre Erfüllung finden. Ich habe einst die nationalsozialistische Revolution durch die Schaffung der Bewegung begonnen und seitdem die Aktion geführt. Ich weiß, wir alle werden nur den allerersten Beginn dieser großen umwälzenden Entwicklung erleben. Was könnte ich anders wünschen als Ruhe und Frieden? Wenn man aber sagt, daß dies nur der Wunsch der Führung sei, so kann ich darauf folgende Antwort geben: Wenn nur die Führer und Regierenden den Frieden wollen, die Völker selbst haben sich noch nie den Krieg gewünscht!

Deutschland braucht den Frieden, und es will den Frieden! Wenn ich nun aus dem Munde eines englischen Staatsmannes höre, daß solche Versicherungen nichts sind und nur in der Unterschrift unter kollektive Verträge die Gewähr der Aufrichtigkeit liegt, so bitte ich Mister Eden, dabei bedenken zu wollen, daß es sich in jedem Fall um eine "Versicherung" handelt.

Es ist manches Mal viel leichter, einen Namen unter Verträge zu setzen mit dem inneren Vorbehalt einer letzten Nachprüfung seiner Haltung in der entscheidenden Stunde, als angesichts einer ganzen Nation in voller Öffentlichkeit sich zu einer Politik zu bekennen, die dem Frieden dient, weil sie die Voraussetzungen für den Krieg ablehnt.

Ich hätte die Unterschrift unter zehn Verträge setzen können, so würde das Gewicht dieser Handlungen nicht gleichbedeutend sein mit der Erklärung, die ich anläßlich der Saarabstimmung Frankreich gegeben habe. Wenn ich als Führer und Beauftragter der deutschen Nation vor der Welt und meinem Volk die Versicherung abgebe, daß es mit der Lösung der Saarfrage an Frankreich keine territorialen Forderungen mehr stellen wird, so ist dies ein Beitrag zum Frieden, der größer ist als manche Unterschrift unter manchem Pakt.

Ich glaube, daß mit dieser feierlichen Erklärung eigentlich ein lange dauernder Streit zwischen beiden Nationen abgeschlossen sein müßte. Wir gaben sie ab in der Empfindung, daß dieser Konflikt und die mit ihm verbundenen Opfer für beide Nationen in keinem Verhältnis stehen zu dem Objekt, das, ohne jemals selbst gefragt zu werden, immer wieder die Ursache von soviel allgemeinem Leid und Unglück gewesen ist und sein würde.

Wenn aber eine solche Erklärung nur die Würdigung findet, zur "Kenntnis" genommen zu werden, dann bleibt natürlich auch uns nichts anderes übrig, als diese Antwort ebenfalls zur "Kenntnis" zu nehmen.

Ich muß aber an dieser Stelle Protest einlegen gegen jeden Versuch, den Wert von Erklärungen je nach Bedarf verschieden zu taxieren. Wenn die deutsche Reichsregierung versichert, namens des deutschen Volkes nichts anderes als den Frieden zu wünschen, dann ist diese Erklärung entweder genau soviel wert als ihre Unterschrift unter irgendeine besondere Paktformulierung, oder diese könnte sonst nicht mehr wert sein als die erste feierliche Erklärung!

Es ist eigentümlich, daß im geschichtlichen Leben der Völker manches Mal förmliche Begriffsinflationen vorkommen, die einer genauen Prüfung der Vernunft nur schwer standhalten könnten. Seit einiger Zeit lebt die Welt z. B. in einer förmlichen Manie von kollektiver Zusammenarbeit, kollektiver Sicherheit, kollektiven Verpflichtungen usw., die alle auf den ersten Augenblick konkreten Inhalts zu sein scheinen, bei näherem Hinsehen aber zumindest vielfachen Deutungen Spielraum geben.

Was heißt kollektive Zusammenarbeit? Wer stellt fest, was kollektive Zusammenarbeit ist und was nicht? Ist nicht der Begriff "kollektive Zusammenarbeit" seit 17 Jahren in der verschiedensten Weise interpretiert worden?

Ich glaube, ich spreche es richtig aus, wenn ich sage, daß neben vielen anderen Rechten sich die Siegerstaaten des Versailler Vertrags auch das Recht vorweggenommen haben, unwidersprochen zu definieren, was "kollektive Zusammenarbeit" ist und was "kollektive Zusammenarbeit" nicht ist.

Wenn ich mir an dieser Stelle erlaube, eine Kritik an diesem Verfahren zu üben, dann geschieht es, weil dadurch am ehesten die innere Notwendigkeit der letzten Entschlüsse der Reichsregierung klargelegt und das Verständnis für unsere wirklichen Absichten geweckt werden kann.

Der heutige Gedanke der kollektiven Zusammenarbeit der Nationen ist ursächliches und wesentliches geistiges Eigentum des amerikanischen Präsidenten Wilson. Die Politik der Vorkriegszeit wurde mehr bestimmt von der Idee der Bündnisse, von durch gemeinsame Interessen zusammengeführten Nationen. Mit Recht oder Unrecht machte man diese Politik einst verantwortlich für den Ausbruch des Weltkrieges. Seine Beendigung wurde - mindest soweit es Deutschland betrifft - beschleunigt durch die Doktrin der 14 Punkte Wilsons und der drei sie später noch ergänzenden.

In ihnen war im wesentlichen zur Verhütung der Wiederkehr einer ähnlichen Menschheitskatastrophe folgender Gedankengang niedergelegt:

Der Friede soll nicht sein ein Friede einseitigen Rechtes, sondern ein Friede allgemeiner Gleichheit und damit des allgemeinen Rechtes. Es soll sein ein Friede der Versöhnung, der Abrüstung aller und dadurch der Sicherheit aller. Daraus resultierte als Krönung die Idee einer internationalen kollektiven Zusammenarbeit aller Staaten und Nationen im Völkerbunde. Ich muß an diesem Platz noch einmal versichern, daß es kein Volk gab, das gegen Ende des Krieges diese Ideen begierlicher aufgegriffen hat als das deutsche. Seine Leiden und Opfer waren weitaus am größten von allen der am Kriege teilnehmenden Staaten. Im Vertrauen auf dieses Versprechen legten die deutschen Soldaten die Waffen nieder.

Als im Jahre 1919 der Friede von Versailles dem deutschen Volk diktiert wurde, war der kollektiven Zusammenarbeit der Völker damit zunächst das Todesurteil gesprochen worden. Denn an Stelle der Gleichheit aller trat die Klassifikation in Sieger und Besiegte. An Stelle des gleichen Rechtes die Unterscheidung in Berechtigte und Rechtlose. An die Stelle der Versöhnung aller die Bestrafung der Unterlegenen. An die Stelle der internationalen Abrüstung die Abrüstung der Besiegten. An die Stelle der Sicherheit aller trat die Sicherheit der Sieger.

(...)

Worauf will ich hierbei, mit diesem langen Zitat, hinaus? Entweder wollte Hitler mit dieser Friedens-Rede die Welt verarschen (das wird wohl die herrschende Meinung sein) oder er glaubte wirklich daran. Wenn er wirklich dran glaubte, wäre dies ein interessantes Beispiel dafür, daß jemand seine kritische Haltung aufgibt und zum kritiklosen Antirationalisten bzgl. Krieg wird. Daß man sich also keineswegs auf eine bestimmte Haltung in einer Angelegenheit: entweder kritischen Rationalismus oder unkritischen Antirationalismus auf die Dauer bei einem Menschen verlassen kann. Dafür sprechen so mancherlei Erfahrungen von 'umgekippten' Leuten, die heute Sachen machen bzw. Ansichten vertreten, die sie früher weit von sich gewiesen hätten. Das kann in der einen und in der anderen Richtung geschehen: beispielsweise vom Kriegsbefürworter zum Kriegsgegner und umgekehrt. Warum das so ist, ist eine andere Frage, deren schlüssige Beantwortung vermutlich einige interessante Aspekte menschlichen Verhaltens zu Tage fördern könnte.

 

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Hier geht’s zum Teil (7.2): Glücksdefinition

 

 

 

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