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Karl Marx 1845

 

(Auf dem Foto ist er garantiert etwas älter. Hat man 1845 überhaupt schon fotografiert? Marx war damals 27)

 

Die fehlerhafte Beweisführung der geschichtslogischen Rolle des Proletariats

Den gordischen Knoten des Problems, was eine emanzipatorische Praxis sein könnte, löste Karl Marx (und Friedrich Engels folgte ihm darin) im September 1844[1]. Ansätze dazu finden sich bei Marx schon in der „Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie“, Ende 1843. Diese Lösung geschah leider auf eine etwas zu brachiale Weise: Das Paradigma, dem sie sodann als berühmteste Revolutionstheoretiker aller Zeiten, wenn nicht zur Geburt, so doch zum Sieg verhalfen, löst sich erst in diesen letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts im Geiste seiner mehr oder minder starken Anhänger in seinen ihm schon von Beginn an inhärenten logischen Widerspruch auf. [2]

Marx schreibt in der „Heiligen Familie“, IV. Kapitel, in Übereinstimmung mit anderen „Sozialistischen Schriftstellern“ [3] (S. 38) „dem Proletariat“ eine „weltgeschichtliche Rolle“ zu. Dabei werden sehr schöne, tiefgründige hegelianische Sätze produziert über den Gegensatz von Proletariat und Reichtum: Der ganze Gegensatz wäre „nichts anderes“ „als die Bewegung seiner beiden Seiten“, und „eben in der Natur dieser beiden Seiten“ liege „die Voraussetzung der Existenz des Ganzen“ (S. 36 ). Ein Gesichtspunkt darüber hinaus, außerhalb des Ganzen auf das Ganze sei Spekulation „in echt theologischer Weise“ (S. 36). Proletariat und Reichtum seien „Gestaltungen der Welt des Privateigentums“ (S. 37).

[Ergänzung: Die hier von mir 1986 dargelegte Kritik an der hegelianischen Geschichtsauffassung von Marx findet sich auf andere (vornehmere, abstraktere) Weise bei dem Philosophen Werner Becker (1987), der diese Kritik schon bei Hegel selber ansetzt: <Das idealistische “Vernunft”-Programm, nach dem die menschliche Selbsterkenntnis in der Erkenntnis der “absoluten Subjektivität” mündet, wird dann am nachdrücklichsten von Hegel mit einer teleologisch-geschichtsphilosophischen Deutung versehen. In seiner Geschichtsphilosophie geht es um die Darstellung eines dialektisch sich entfaltenden “Wesens der Geschichte”, welches “zu sich selber kommen” soll in einem Endzustand, der “frei sich selbst begreifenden Vernunft”. Es ist ein Zustand, der “vernünftig” genannt wird, weil in ihm die Freiheit der einzelnen völlig kompatibel mit der Freiheit aller ist.> (S. 399f.)

Und nun die Kritik von Werner Becker: <Der Umstand, daß nur ein “überempirischer” Vernunftanteil im Menschen diese Art eines “Gesellschaftsvertrags” zu verwirklichen gestattet, spiegelt sich darin, daß diese “Vernunft” die Grenzen der normalen Logik sprengt. Nur um den Preis einer “dialektischen”, die Gesetze der seit Kant “formal” genannten Logik überschreitenden “Vernunft” läßt sich nach Hegel der Zustand der “Vesöhnung” des endlichen Denkens mit dem “absoluten” Denken konzipieren, ein Zustand, welcher zugleich die Erkenntnis der “absoluten” Befreiung des Menschen von den Beschränkungen seiner “Endlichkeit” bedeutet.>  ... <Das [gemeint ist jene metaphysische ‘dialektische’ Konstruktion, welche die normale Logik ‘übersteigt’, M.A.] bedeutet im Licht des normalen Menschenverstandes gewiß keine Empfehlung für das dialektische Konzept des “Gesellschaftsvertrags”.>(S. 400)

Aus: Werner Becker: Das Konsenskonzept in der Philosophie der Neuzeit. In: Philosophie und Begründung. Herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 673, Ffm 1987, S.391-405)]

 

Die Idee, wonach das Privateigentum der Kern der Sache ist, hat Marx (und Engels) vermutlich von Proudhon übernommen:

„Die Kritik kann nicht leugnen, daß auch Proudhon [4] eine innere Verbindung zwischen den Tatsachen der Armut und des Eigentums erkennt, da er eben dieser Verbindung wegen das Eigentum aufhebt, um das Elend aufzuheben.“ (S. 36)

Der Privateigentümer ist die konservative Partei und der Proletarier „die destruktive Partei“ (S. 37). Gewisse Symmetrie-Überlegungen erscheinen so suggestiv zwingend, daß etwaige empirische und/oder logische Teufel im Detail in der Unterwelt des Nicht-Nachgeprüften unkritisch verbannt bleiben müssen. [5] Die erste Symmetrie-Überlegung lautet:

„Das Privateigentum als Privateigentum, als Reichtum, ist gezwungen, sich selbst und damit seinen Gegensatz, das Proletariat, im Bestehen zu erhalten. [6] Es ist die positive Seite des Gegensatzes, das in sich selbst befriedigte Privateigentum. Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. Es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum.“ (S. 37)

 Die zweite Symmetrie-Überlegung lautet:

 „Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist , um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch  den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird.“ (S. 37)

Nach diesen beiden Symmetrie-Überlegungen folgt eine Zusammenfassung, die auch als Schlussfolgerung eines Beweises angesehen werden kann. Sie lautet:

„Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesen die Aktion seiner Vernichtung aus.“ (S. 37)

Nun folgt eine weitere Symmetrie-Überlegung, wonach das Privateigentum der bewusstlose Teil der Bewegung der beiden Seiten ist, während das Proletariat der bewusste Teil sei:

„Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eigenen Auflösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewusstlose, wider seinen eigenen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewusste Elend, die ihrer Entmenschung bewusste und darum sich selbst aufhebende Entmenschung.“ (S.37)

Hier taucht nun plötzlich und unvermittelt ein logischer Widerspruch auf, der Teufel, der im Detail steckt. Ihm will ich mich jetzt zuwenden. – Wie kann „geistiges Elend“ sich seiner selbst bewusst sein? Wäre Bewusstsein da, wäre es nicht mehr geistiges Elend zu nennen. Allein zu wissen, daß man ungebildet, unwissend und unbewusst ist und zu ahnen, daß man psychisch ein Spielball äußerer und innerer unbekannter Kräfte ist, reicht nicht hin, um sich als seines geistigen Elends bewusstes Elend anzusehen, das dazu noch in der Lage sein soll, seine Entmenschung selbst aufzuheben. Es ist überhaupt anzunehmen, daß das Bewusstsein über sein eigenes geistiges Elend ein Zustand ist, welcher die eigene geistig elende Vergangenheit reflektiert. Ein Elend, das eben nicht mehr in der Gegenwart andauert, sondern überwunden ist. Die Herstellung jenes reflektierten Zustands, also jenes Bewusstseins, geht Hand in Hand mit der praktischen Aufhebung des geistigen Elends, das heißt, mit geistig-psychischen Veränderungsprozessen der Selbstreflexion. Solange aber jenes geistige Elend durch die zwanghafte Existenz des Proletariats und der entsprechend autoritären Gesellschaftsstruktur andauert, kann jenes selbstreflexive Bewusstsein nicht durch das Proletariat als Proletariat entwickelt werden, weil für jene praktische Veränderung kein gesellschaftlicher Raum und darum keine ausreichende Energie (Motivation) vorhanden ist.

Man findet die Notwendigkeit der Reflexionsfähigkeit des Proletariats, seinerzeit speziell nur für Deutschland gedacht, bei Marx meines Wissens zum ersten Mal Ende 1843/Anfang 1844 in der „Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie“, am Schluss [7] (S. 391);

„Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.“

Marx und Engels hatten vermutlich nur ‚Arbeiterbildung’ im Sinn.[8]  Was aber für jene ‚Beweisführung’ ein objektives, relevantes Problem, nicht nur der Masse des Proletariats, sondern der zivilisierten Gesamtgesellschaft darstellt, ist das Problem der psychischen Entfremdung, der weiten Verbreitung des autoritären Charakters in seinen verschiedenen Ausprägungen [9], und damit der spezifischen Schwierigkeiten ‚psychoanalytischer’ Selbstreflexion, die zumindest ein gewisses, im Proletariat kaum vorfindliches Bildungsniveau voraussetzt. Hinzu kommen spezifische sozialpsychologische Widerstände, Abwehrformen, die eine Einsicht, d.h. die Information über das eigene geistig-psychische Elend, ideologisch abwehren. Dieses objektive, aber von Marx und Engels nicht einmal in Ansätzen explizit erkannte Problem, führt empirisch den oben genannten Widerspruch herbei. Aber schon rein logisch, per Definition, ist „Bewusstsein“ das nicht mehr vorhandene oder eben das aufgehobene geistige Elend: Marx und Engels sprechen hier von einem schwarzen Schimmel.

Andererseits drückt jedoch ihre Behauptung von dem zu Bewusstsein (dialektischerweise) hindrängenden Proletariat die Erkenntnis aus, daß das Proletariat, um zum Handeln zu kommen, nicht einfach wie ein Schwungrad mechanisch agiert, sondern, daß auch für das Proletariat Bewusstsein zum Handeln gehört: zu den Entscheidungen gehört Wissen, und zum Wollen gehört ein Ziel, von dem man wissen muss. Dieses Bewusstsein wird dem Proletariat für die nächste Zukunft (nach 1845) von Marx und Engels unterstellt; es wird aber kein ernsthafter Versuch gemacht, dieses wichtige strategische Praxisproblem einer genauen logisch-empirischen Analyse zu unterziehen. Das Motto ihrer damaligen Grundsteinlegung einer Theorie der Praxis von Befreiung (Emanzipation) scheint eher zu lauten: es ist so, weil es so sein muss:

„Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch in ihm selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewusstsein dieses Verlusts gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muss das Proletariat sich selbst befreien .“ (S. 38)

Oder auch, um mit Christian Morgenstern zu reden: Also schlossen Marx und Engels messerscharf, daß nicht sein kann (nämlich kein theoretisches Bewusstsein dieses Verlustes gewonnen zu haben) was nicht sein darf [10] (nämlich deswegen nicht, weil doch das Proletariat zur Empörung gezwungen ist, und zur Empörung gehört ja wohl auch Bewusstsein).

Sehr wohl ist  insbesondere Engels, von der Situation des Proletariats in England her, das Phänomen der empörungslosen Wut des Proletariats bekannt. Engels hat in der Rezension zu Thomas Carlyle’s Buch „Past and Present“, die er an Marx im Januar 1844 unter dem Titel „Die Lage Englands“ [11] für die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ nach Paris schickte, entsprechende Zitate Carlyle’s gebracht. So zum Beispiel die Schilderung der „Manchester-Insurrektion“ vom August 1842 [12]:

„Eine Million hungriger Arbeiter standen auf, kamen alle heraus auf die Straße und – standen da. Was sonst sollten sie tun? Ihre Unbilden und Klagen waren bitter, unerträglich, ihre Wut dagegen war gerecht; aber wer verursacht diese Klagen, wer will abhelfen? Unsre Feinde sind, wir wissen nicht wer oder was; unsere Freunde sind, wir wissen nicht, wo? Wie sollen wir jemand angreifen, jemand erschießen oder uns von jemand erschießen lassen? O, wenn dieser verfluchte Nachtalp, der unsichtbar unser und der Unsrigen Leben auspresst, nur eine Gestalt annehmen, uns als syrkanischer Tiger, als Behemoth des Chaos, als der Erzfeind selbst entgegentreten wollte! In irgendeiner Gestalt, die wir sehen, an der wir ihn fassen könnten!“ (Carlyle)

Dazu kommentiert Engels:

“Das war aber eben das Unglück der Arbeiter in der Sommerinsurrektion von 1842, daß sie nicht wussten, gegen wen sie kämpfen sollten. Ihr Übel war ein soziales – und soziale Übel lassen sich nicht abschaffen, wie man das Königtum oder die Privilegien abschafft. Soziale Übel lassen sich nicht durch Volkscharten kurieren, und das fühlte das Volk – sonst wäre die Volkscharte heute das Grundgesetz von England. Soziale Übel wollen studiert und erkannt sein, und das hat die Masse der Arbeiter bis jetzt noch nicht getan. [Unterstreichung vom Verfasser]. Die große Frucht des Aufstandes war, daß die Lebensfrage Englands, die Frage nach dem definitiven Los der arbeitenden Klasse, wie Carlyle sagt, auf eine für jedes denkende Ohr in England hörbare Weise gestellt wurde. Die Frage kann jetzt nicht umgangen werden. England muss sie beantworten oder untergehen.“ (Engels, S. 531)

Es gibt noch in der „Heiligen Familie“ zum Schluss der Marx-Engels’schen Ableitung des Proletariats als Subjekt der Befreiung eine verräterische Wendung, die da lautet: „Es bedarf hier nicht der Ausführung“; nämlich

“Es bedarf hier nicht der Ausführung, daß ein großer Teil des englischen und französischen Proletariats sich seiner geschichtlichen Aufgabe schon bewusst  ist und beständig daran arbeitet, dies Bewusstsein zur vollständigen Klarheit herauszubilden“ (S. 38)

Sehr wohl hätte es ehrlicherweise doch dieser „Ausführung“ bedurft, vor allem, wenn man das Carlyle’sche Zitat über die Volkserhebung in Manchester von 1842 und den zugehörigen Kommentar von Engels vom Januar 1844, also vor der „Heiligen Familie“ (ab September 1844) bedenkt. Sollte sich innerhalb einer oder höchstens zweier Jahre derartig viel verändert haben?

Der Mangel an wissenschaftstheoretischem Bewusstsein bezüglich Theoriebildung [13] mag Marx und Engels dazu verleitet haben, in philosophisch-spekulativer Weise zu deduzieren, was Realität ist und zu sein hat:

„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet .“ (S. 38)

Wenn dieses Sein und Sollen objektiv vorgezeichnet und vorherbestimmt ist, was der einzelne Proletarier oder das Proletariat als Ziel oder Aktion sich letzten Endes zu denken hat, aber „einstweilen“ sich noch nicht denkt , so ist die wichtige Rolle der speziellen theoretischen Praxis von Marx und Engels hiermit festgelegt: Sie arbeiten theoretisch aus, worin die objektiven Handlungsimperative des Proletariats liegen; sie analysieren Klassenkämpfe (z.B. in Frankreich), sie analysieren die nationalökonomische Bewegung des Privateigentums (das Kapital) hin zu seiner Auflösung; sie stellen sich parteilich auf die Seite der in die objektive Richtung zu lenkenden Kämpfe des Proletariats, schützen es vor anarchistischen, humanitätsduseligen oder sozialdemokratischen Fehlentwicklungen u.dergl.m.

An diese dialektische Geschichtsmetaphysik heftet sich eine gewisse Ungereimtheit der Bestimmung des Praxis-Ziels für „das“ Proletariat. Marx und Engels erwarten vom Proletariat, das es „sich selbst und sein Gegenteil aufhebt“ (S. 38), denn nur dadurch könne es überhaupt siegen. Wie aber soll das Proletariat sich selbst aufheben wollen, wenn es siegen will? Und weiter: Will eine relevante Menge von Proletariern überhaupt siegen?  - Wenn jemand siegen will, dann doch gewöhnlich als der, der er jetzt ist. Die Vorstellung eines ‚Proletariers’, gänzlich anders sein zu wollen, bewegt sich doch real meist im Horizont von Lottogewinn, Playboy/Playgirl, Luxuslimousine und Nicht-mehr-arbeiten-müssen. Aber doch wohl kaum, oder viel zu selten, oder wenn, dann oft sehr widersprüchlich, im Horizont der menschlichen Emanzipation, wenn man das Proletariat als reales Bildzeitungsleser-Proletariat betrachtet. André Gorz schreibt meines Ermessens zutreffend über das Problem der Arbeiterklasse [14]:

„Aber woher soll die Fähigkeit zur Verneinung ihrer selbst kommen? Diese Frage vermag der Marxismus als „positive Wissenschaft“ nicht zu beantworten. Da die Arbeiterklasse das ist, was sie ist, da ihr Klassenbewusstsein positiv ist, wird sie nur dann aufhören, das zu sein, was das Kapital aus ihr gemacht hat, wenn es zu einem Bruch innerhalb der Struktur des Kapitals selbst kommt.“ (Gorz, S. 34)

„Nun ist die Möglichkeit, sich zu negieren – obwohl sie bei Marx, wie übrigens auch bei Sartre ontologisch gesetzt ist -, nicht sogleich kulturell gegeben. Die Möglichkeit eines Arbeiters, die Differenz zu erkennen zwischen seiner objektiven Lage als Zahnrad des Produktionsprozesses und seiner virtuellen Lage als souveräner assoziierter Produzent ist keine der proletarischen Existenz.“ (Gorz, S. 35)

“Eine Klasse jedoch, für die die gesellschaftliche Tätigkeit keine Machtquelle ist, hat weder die Möglichkeit, die Macht zu erlangen, noch fühlt sie sich dazu berufen. (Gorz, S. 62).

 

Hier ist noch ein letztes Wort anzufügen zum Schicksal des Marxismus, daß er „pervertiert“ wurde. Ich denke es war ein konsequenter Schritt weiter in der Marx-Engels’schen Wegweiser-Haltung gegenüber dem angeblich objektiv vorgezeichneten Weg, den das Proletariat einzuschlagen hat, wenn Lenin erkennt, daß die Masse des Proletariats von sich aus, spontan, bestenfalls nur zu trade-unionistischem (gewerkschaftlichem) aber nicht zu revolutionärem Bewusstsein gelangt. Somit muss eine Proletariats-Elite, die bewusste Avantgarde des Proletariats, die eben Marx und Engels (und Lenin) studiert hat, und von der jeder einzelne bereit ist, Berufs-Revolutionär zu sein, das Proletariat zum Sieg seiner geschichtlichen Aufgabe führen.[15] Lenin weist unermüdlich darauf hin, daß nur er, und solche, die ihm bedingungslos folgen, wahre Marxisten sind. Und er bezieht sich dabei auf jenen Marx’schen geschichtslogischen Objektivismus, wenn er in absolut zweifelsfreier Selbstgewissheit nach rechts (gegen die Sozialdemokraten) und links (gegen die „Linksabweichler“) Verdammungsurteile ausspricht, weil diese vom richtigen Weg ablenken. Das führt schließlich zu regelrechten Absurditäten. So heißt es in der berühmten Schrift für die Delegierten des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale in Moskau 1920, „Der ‚Linksradikalismus’ , die Kinderkrankheit des Kommunismus“ [16]:

„Die proletarische Avantgarde ist ideologisch gewonnen. Das ist die Hauptsache. Ohne diese Vorbedingung kann man nicht einmal den ersten Schritt zum Sieg tun. Aber von hier bis zum Sieg ist es noch ziemlich weit. Mit der Avantgarde allein kann man nicht siegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen, solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht die Position eingenommen haben, daß sie die Avantgarde entweder direkt unterstützen oder zumindest wohlwollende Neutralität ihr gegenüber üben...“ (Lenin, S. 99)

Wer ist „man“? Nach marxistischer Version „das Proletariat“, denn es geht schließlich bei dem „Sieg“ um die Diktatur des Proletariats. Da aber, wie Lenin selber zugibt, eine proletarische Avantgarde „ideologisch gewonnen“ werden kann, ohne daß die Klasse in ihrer Masse „ideologisch gewonnen“ wurde, kann somit die Avantgarde offenbar nur von der Avantgarde der Avantgarde „ideologisch gewonnen“ worden sein. Und wer ist das? Und wer ist die Avantgarde der Avantgarde der Avantgarde? Lenin selber?! Überhaupt kann man des öfteren für gewisse Allgemeinbegriffe am besten „Lenin“ einsetzen, um zu verstehen, was gemeint ist. Zum Beispiel für „Diktatur des Proletariats“, „proletarische Staatsmacht“, „Kommunistische Internationale“ sollte es richtigerweise heißen: „Diktatur Lenins“, „Lenin’sche Staatsmacht“, „Internationale der Anhänger Lenins“.[17]

  

 

(Manfred Aulbach, 1986)

  

 

 

 




 

[1] Karl Marx und Friedrich Engels  (ursprünglich Ffm 1845): Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, (Sept. 1844-1845), in MEW, Bd.2, Berlin (Ost), 1958, S. 7-223. (Seitenangaben im Text ohne weitere Namens-Angaben beziehen sich auf diese Ausgabe der ‚Blauen Bände’).

[2] Als ein wichtiges Beispiel einer dieser Anhänger möge dienen, André Gorz: Abschied vom Proletariat, Reinbek 1983

[3] Gemeint ist möglicherweise Buonarotti, der die Ideen Babeufs propagierte.

[4] Marx bezieht sich auf Proudhons Werk , Paris 1840: Qu’est-ce que la proprieté? (Was ist das Eigentum?)

[5] Dass Symmetrie-Überlegungen, so wichtig sie heuristisch sein können , nicht als Ersatz für einzelwissenschaftliche Forschung dienen können, geben auch die bekannten DDR-Philosophen Klaus und Buhr zu (in ihrem „Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, Reinbek 1972, S. 1056, Stichwort „Symmetrie“).

[6] Dieser Zwang ist offenbar das Grundaxiom, von dem Marx -  und mit ihm alle Marxisten – ausgehen. Marx, dem überaus kritischen Kritiker der kritischen Kritik, kommt es nicht in den Sinn zu fragen, ob dies vielleicht nur ein lediglich historischer Zwang ist, dem  möglicherweise gar keine logische, d.h. an-sich ökonomische Notwendigkeit zugrunde liegt. (Nachträgliche Anmerkung des Verfassers dieses Essays im Jahre 2002)

[7] MEW Bd.1, Berlin(Ost) 1978, S. 378-391 (ursprünglich in „Deutsch -Französische Jahrbücher, Paris 1844)

[8] In der frühen Sozialdemokratie gab es „Arbeiterbildungsvereine“.

[9] Vgl. Th. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Ffm 1973

[10] Es handelt sich bei diesem Spruch um das Ende des Gedichtes „Die unmögliche Tatsache“ (aus Chr. Morgenstern: Jubiläumsausgabe in vier Bänden, Band 1, Galgenlieder, Palmström und andere Grotesken, München 1979, S.136). In diesem Gedicht wird Palmström von einem Kraftfahrzeug überfahren. Die beiden letzten Strophen des Gedichtes lauten:

Eingehüllt in feuchte Tücher

prüft er die Gesetzesbücher

und ist alsobald im klaren:

Wagen durften dort nicht fahren!

 

Und er kommt  zu dem Ergebnis:

Nur ein Traum war das Erlebnis.

Weil, so schließt er messerscharf,

nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

[11] In MEW, Bd. 1, Berlin (Ost) 1978, S.525-549

[12] ibid S. 531

[13] oder ein Trieb hin zur marxistischen Ideologie, die Marx (und im Gefolge auch Engels) philosophischen Lebenssinn verschaffte, in gewisser Analogie dazu, wie Plato sich diesen erträumte. (Anmerkung des Verfassers im Jahre 2002).

[14] Abschied vom Proletariat, Reinbek 1983

[15] Das war dann das Selbstverständnis der „Kommunisten“ (Anmerkung des Verfassers 2002)

[16] Die Seitenzahl bezieht sich auf die deutschsprachige Ausgabe Peking 1973

[17] Anmerkung aus 2002: Das erinnert mich an einen Witz aus der DDR :

Im HO-Kaufhaus gibt es plötzlich eine größere Warensendung von Kuckucksuhren aus der Sowjetunion. Diese Kuckucksuhren funktionieren folgendermaßen: Wenn es Viertel ist, kommt der Kuckuck raus und ruft „Lenin“. Wenn es halb ist, kommt der Kuckuck raus und ruft  „Lenin, Lenin“. Wenn es dreiviertel ist, kommt der Kuckuck raus und ruft „Lenin, Lenin, Lenin“. Bei der vollen Stunde kommt der Lenin raus und  ruft: „Kuckuck“.

 

 

 

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