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08.06.10 (Manfred Aulbach)
Rezension des Buches von Frans H. van Eemeren und Rob Grootendorst: „A Systematic Theory of Argumentation. The pragma-dialectical
approach”, Cambridge (UK) 2004.
Es spricht für die zu Recht besondere Wertschätzung, daß Cambridge University Press diese beiden holländischen Professoren auf Englisch verlegte. Beide haben seit den 70er Jahren gemeinsam systematisch an dem Thema ‚Argumentationstheorie’ gearbeitet. Dieses Buch ist das letzte einer Reihe von Aufsätzen und Büchern, an dem Grootendorst zusammen mit van Eemeren beteiligt war; Grootendorst starb im Jahre 2000.
Da meiner Erfahrung nach von deutschen Philosophie-Interessierten der Ausdruck ‘dialektisch’ verschiedentlich negativ
konnotiert wird, sei darauf hingewiesen, daß die Autoren mit dem “pragma-dialectical approach” kein spezielles Lehrbuch des Marxismus-Lenismus, auch keine neue Hegel-Interpretation vorlegen, sondern sich
auf die aristotelische Verwendungsweise des Ausdrucks ‘Dialektik’ beziehen:
For Aristotle, dialectics is about conducting a critical discussion that is dialectical because a systematic interaction takes
place between moves for or against a particular thesis. (S.43)
Was nun die Vorsilbe “pragma-” anbelangt, so mache ich mir den folgenden Reim darauf, nämlich daß die Autoren weder
Florettfechten im Elfenbeinturm noch anödend Statistik üben wollen, sondern eine handhabbare Prozedur vorlegen, die klar stellt, worin eine Diskussion konstruktiv ist. (S.20). Ihre Theorien und Überlegungen
sind also auf Nützlichkeit ausgerichtet - oder anders ausgedrückt: pragmatisch.
Die beiden Forscher haben sich die Aufgabe gestellt, die schon aus der Antike überlieferte Thematik auf einen bestimmten Bereich
einzugrenzen, um auf diese Weise zu handfesten Ergebnissen zu kommen. Ihr eingegrenzter Bereich hat die Voraussetzung, daß sich Menschen bei ihren Meinungsverschiedenheiten auf humane Weise begegnen und gemeinsam zu
einer für alle Beteiligten akzeptablen Lösung kommen wollen. Dabei geht es nicht um den Konsens um des Konsenses willen, sondern es geht um „kritische Diskussion“. Darunter verstehen die Autoren im
Sinne des Kritischen Rationalismus (Popper), die Diskussion als ein Mittel, um umstrittene Standpunkte ernsthaft, mit einem Maximum an Zweifel, auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen (S.188) - deswegen also der
Fachausdruck „kritische Diskussion“. Es geht bei einer Lebensgestaltung, die solcherlei kritische Diskussion zur Lösung von Problemen einsetzt, wie die Autoren in einer interessanten Anmerkung dazu (S.188,
Anm.4) konstatieren, nicht um das größtmögliche Glück, sondern um das Erreichen des geringst möglichen Unglücks. Also offenbar um eine realistische Position im Leben.
Wenn
irgendwelche Diskutanten das ernsthaft & ehrlich wollen, so können sie sich auf gewisse Spielregeln der Argumentation einlassen, um ihre Meinungsverschiedenheiten per Begründung und Gegenbegründung soweit wie möglich zu klären und dadurch zu irgendeiner Art von Einigung zu kommen, die alle Seiten akzeptieren können. (Der Einfachheit halber geht es in dem Buch lediglich um „Protagonist“ und „Antagonist“, also um 2 Parteien oder noch einfacher, um 2 Personen mit unterschiedlichen Standpunkten zum selben Thema). Die klare Erkenntnis dieser Spielregeln ist offenbar das gemeinsame Ziel der Autoren gewesen, um das ihr Lebenswerk kreiste. Auf diese Weise haben sie dem Thema Argumentation eine Verhaltens-Klarheit und damit einen normativen Leitfaden verliehen, der vermutlich bitter nötig war.
Wenn beispielsweise ein Mr.X behauptet: „es gibt keine Meisterdenker, die entscheiden können, worin sich Argumentationsfähigkeit
bemißt; bzw. es gibt keine Autorität zum Thema Argumentieren“, so kann man jenes Buch der beiden holländischen Wissenschaftler empfehlen – insbesondere den Schluß (S.190ff.): die 1o
„Commandments“. (Man findet sie etwas anders formuliert, aber sinngemäß identisch, in der englischen Wikipedia unter dem Stichwort
„Pragma-Dialectics“. Kurioserweise wurde allerdings Commandment 7 mit 8 vertauscht und umgekehrt). Denn es würde meiner Ansicht nach jenem Mr.X schwerfallen, diese
Gebote einer vernünftigen Diskussion mit guten Gründen als sinnlos anzuzweifeln, sofern er anerkennt, daß es nicht einfach um Streit & Konflikt als solchen geht, sondern um die kooperative
Suche nach Lösungen und/oder Klärungen von unterschiedlichen Standpunkten.
Mr.X hat m.E. jedoch insofern recht, als verbaler Streit & Konflikt bei unvereinbaren, gegensätzlichen Interessen aus dem Rahmen
jener 10 Gebote von Eemeren & Grootendorst fällt. Es fragt sich dann allerdings, ob der Ausdruck ‚Argumentation’ unter dieser Voraussetzung dafür überhaupt noch angemessen verwendet wird. Tatsächlich ist
es so, daß die beiden holländischen Autoren auf dieses Thema nur sehr schwach eingehen. Sie schleppen zwar in den Anfangskapiteln noch eine ungeliebte klassische Verwandte der Argumentation mit sich herum, die zwar
sehr zuvorkommend und höflich behandelt wird, die sie aber später in diesem Buch nicht mehr zu sich einladen, nämlich die Überredungskunst bzw. rhetorische Argumentation. Die ungeliebte Verwandte hat eher die
Funktion, aufzuzeigen, wie man sich nicht benehmen sollte. Sie halten Argumentation als Überredungskunst (persuasion) mit dem Sprachphilosophen Searle für eine parasitäre Haltung bzgl. Argumentation im eigentlichen
Sinne (S.15). Aber bis auf diese Ausnahme der Persuasion befassen sie sich nicht (oder nur höchst schwach) mit verbalen Kommunikationsgebieten, wo jene 10 Spielregeln weitgehend Makulatur sind, etwa
Parlamentsdebatten, Ehestreit, Gespräche bzw. Streit mit oder unter Argumentationsunfähigen, Herrschaftsdiskurs, psychisch gestörte Kommunikation, Small-Talk, Sexuelle Verführung, diplomatische Sondierungen,
Verkaufsgespräche, ideologische Argumentation usw.
Aber natürlich fragt es sich hier, wie soll ‚Argumentation’ definiert werden? Denn es heißt ja beispielsweise offenbar nicht
zu Unrecht “Parlamentsdebatten“ und nicht „Parlamentsargumentationen“. Insofern kann man den gordischen Knoten durchhauen und eine Definition liefern, welche Argumentation im eigentlichen Sinne
(ieS) genauer bestimmen soll. Hat man keine Argumentation ieS, so kann man ja notfalls ein Beiwort wählen, das andeutet, daß es sich zwar um eine Art Argumentation handelt, aber eben nicht ieS – also eher um eine Pseudo-Argumentation statt einer richtigen Argumentation, wie beispielsweise bei der ‚Argumentation als Überredungskunst’ oder bei der ‚ideologischen Argumentation’. Die Definition von Eemeren/Grootendorst, die diesen gordischen Knoten meiner Ansicht nach überzeugend durchhaut, lautet:
-
Argumentation is a verbal, social, and rational activity aimed at [anstrebend] convincing [überzeugen] a reasonable critic [einen vernünftigen Beurteiler, Bewerter] of the acceptability [Annehmbarkeit] of a standpoint by putting forward [vorbringen] a constellation [Vereinigung] of propositions [Behauptungen, Aussagen, Thesen] justifying [begründen, rechtfertigen] or refuting [widerlegen, anfechten] the proposition expressed in the standpoint. (S.1).
Da sich hier unter der Hand ein kleiner logischer Fehler eingeschlichen hat, gebe ich eine leicht verbesserte Definition auf Deutsch:
-
Argumentation ist eine sprachliche, soziale und rationale Aktivität, bei der es darum geht, einen
vernünftigen, kritischen Beurteiler von der Annehmbarkeit einer Behauptung zu überzeugen. Dies geschieht, indem man eine Konstellation von Aussagen vorträgt, die geeignet ist, die These des vorgetragenen
Standpunktes begründend zu rechtfertigen. Mit der Begründung einer Gegenthese soll jener Standpunkt andererseits widerlegt werden.
Nun taucht selbstverständlich sofort die Frage auf: was ist ein reasonable critic?
Was ist ein vernünftiger, kritischer Beurteiler? Dazu bedienen sie sich einer Unterscheidung, die normalerweise nicht so deutlich ist, sie wird (durchaus am Sprachgebrauch orientiert) quasi definitorisch eingeführt: Die Autoren unterscheiden „rational“ und „reasonable“. Dann definieren sie
„rational“ als die „faculty of reasoning“ – also die potentielle Fähigkeit zum Denken, zur Argumentation, zur Beweisführung. Sodann definieren sie „reasonable“
als „the sound use of the faculty of reasoning.“ – also den faktisch
tadellosen, fehlerfreien, soliden Gebrauch des Denkens, der Argumentation, der Beweisführung. (S.124). Man muß also diese Fähigkeit auch gekonnt
zum fehlerfreien Erfolg führen können, d.h. nicht Lehrling, sondern Gesellin oder Meister sein, um als ein “reasonable critic” zu gelten.
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Das Buch stellt vermutlich eine Kurzfassung der bisherigen Ergebnisse der beiden Autoren dar. Ich sage „vermutlich“, weil ich
bisher nur dieses Buch von den Autoren kenne, es aber eine Menge Anmerkungen gibt, die auf vorausgehende Bücher verweisen. Dazu ein Beispiel: Da die Autoren sich offenbar als Grundlegung ihrer theoretischen
Untersuchungen viel mit der Sprechakt-Theorie befaßten, lautet ihr (meines Wissens) erstes gemeinsames Buch von 1984: „Speech Acts in Argumentative Discussions“, worauf sie ziemlich häufig in den Anmerkungen
hinweisen.
Da jene theoretischen Untersuchungen nicht unbedingt für den praktischen Argumentator von Interesse sind, gehe ich nicht näher
darauf ein. Auch nicht auf die genauere Analyse, wie man Argumentation rekonstruieren kann
– beispielsweise, wenn dieselbe indirekt und kurzgeschlossen ist, so daß diverse implizite Argumente durch jene Rekonstruktion erst explizit gemacht werden müßten, um genau zu klären, worin denn nun die eigentliche Argumentation besteht. (Als eigenes Beispiel fällt mir das ‘Argumentum ad Populum’ ein: “Everyone knows that the Earth is flat, so why do you persist in your outlandish [absonderlich] claims [Behauptungen]?). - Wenn man es
nötig haben sollte, diese Analyse einmal selber zu bewerkstelligen, findet man in diesem Kapitel 5 (S.95ff.) sicherlich eine Menge interessanter Hinweise und Hilfestellungen. Jedoch: „In practice, it seldom
is“, sagen die Autoren selber (S.185). - Auch gehe ich nicht darauf ein, worin genau der Unterschied zwischen ihren 15 Regeln und ihren 10 Commandments besteht. Bei letzteren dreht es sich rein um [“may
not”, darf-nicht-] Verbote von Spiel-Zügen in dem Argumentationsspiel (S.190), bei ersteren (Kapitel 6, S.123ff.) wird in 15 Punkten genauer ausgeführt, was eine gelungene Argumentationssequenz vom
Anfang bis zum Ende ausmacht. Die 15 Regeln und die 10 Commandments laufen für mich persönlich eigentlich auf dasselbe hinaus. Die Letzteren sind für den Praktiker gedacht, die ersteren offenbar mehr für den
Theoretiker.
Einen für mich wichtigen Kritikpunkt habe ich bei allem Enthusiasmus trotzdem: Dem Thema ‚Relevanz’, das mich
brennend interessierte (vgl. meine “Grundvoraussetzung von Argumentationskunst”), wurde zwar offiziell ein ganzes Kapitel 4 (S.69ff.) gewidmet, aber die Fragen, die mich persönlich beschäftigten: was genau
ist eigentlich relevante Argumentation, warum genau
ist eine Argumentation irrelevant?, wurden hier leider nicht behandelt. - Auch ein paar andere Schönheitsfehler möchte ich hier nicht ganz unerwähnt lassen. So z.B. hätten sich die Autoren den kindischen Rabbi im Kapitel 2 (“The realm of argumentation studies”, S.9ff.) durchaus sparen können. - Des weiteren: Die gemeinsame Vereinbarung sämtlicher anwendbaren Schlußverfahren (“argument schemes”)
von vornherein
ist ja wohl so irreal wie die Nacht. Daß man evtl. von vornherein Analogieschlüsse verbietet (S.149) - von mir aus o.k. - Aber sonst: was soll man außerdem noch an Schlußverfahren verbieten oder gar (endlos?) positiv bestimmen? - Auch daß Commandment 8 (“argument scheme rule”, S.194f., bei der Wikipedia übrigens Commandment 7) nicht verständlich erläutert wurde, hat mich empfindlich gestört. Ich weiß - ehrlich gesagt - nicht, was jene “argument scheme rule”
bedeuten soll und erst recht nicht, für was sie gut ist. Meiner Ansicht nach kann man sie ersatzlos streichen und der praktisch handelnde Argumentator wird wahrscheinlich nix vermissen.
Die Autoren hegen einen gewissen Ehrgeiz, daß sie alle bisher bekannten fallacies (Fehlargumentationen) in ein System bringen könnten, bzw. bisher nicht erfaßte
fallacies mit Hilfe ihrer vorher genau aufgelisteten Schritte einer gelungenen Argumentation (15 rules, im Model of a critical discussion, Kapitel 3, S.42ff.) entlarven können. Diesem Thema widmen sie sich im
Kapitel 7 (“Fallacies”, S.158ff.). Ganz sicher gibt es einige Argumentationsfehler, die sich auf das von den Autoren so klar dargestellte Argumentations-Verfahren
mit seinen 15 Regeln bzw. die 10 Commandments beziehen, die als Verfahrensregeln rein logisch nicht erfaßbar sind. Z.B. ist es auch für mich ein klarer Verstoß gegen den argumentativen Anstand, wenn jemand seine Behauptungen auf Nachfrage nicht begründet. (Commandment 2, S. 191). Oder wenn er das nicht kann, nicht offen zugibt, daß er es nicht kann (Commandment 9, S.195). Oder – ganz wichtig - wenn einer irrelevant diskutiert (Commandment 4). Das kann man rein logisch
nicht als Fehler, folglich als ‚echte’ fallacy ausmachen, wohl aber im Sinne der 10 Commandments, wenn man eine kritische Diskussion auf anständige Weise bis zum Ende führen will. In der Hinsicht haben die Autoren meiner Ansicht nach Bahnbrechendes geleistet und mit ihren Regeln und Commandments genauer geklärt, was eigentlich ‘Argumentation’ ist. Doch bei der Analyse von sonstigen Argumentationsfehlern, speziell logischen fallacies, kann ich bisher leider noch nicht erkennen, inwiefern ich da eine besondere Hilfestellung oder systematische Klärung durch das spezifische System der Autoren hätte.
Das soll auf keinen Fall die großartige Leistung dieser beiden Forscher in Frage stellen! Meine hier aufgeführten kritischen
Anmerkungen behandeln ja lediglich unwesentliche Randphänomene des kleinen Meisterwerkes. Für mich jedenfalls war dieses Buch ein echter Gewinn. Ich habe eine Menge Sachen dazu gelernt und sehr viele neue
Aufmerksamkeitshaltungen erworben. Außerdem freue ich mich darüber, in wie vielen Punkten ich mit den Autoren übereinstimmen kann. Kritische Randglossen meinerseits („Ach come on“ oder „geht das wieder
los“, oder „U“, wie unverständlich, oder „Ach du Scheiße“ beispielsweise) waren ziemlich rar.
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Zum Kapitel (7.1) - Glücksstreben vs.
Vermeidung von Unglück
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