Der Gegensatz Bourgeois vs. Citoyen (1986)
Es zeigt sich im Rahmen des „politischen Staats“ [1] eine eigentümliche Widersprüchlichkeit, die der vormarxistische Marx [2] unter anderem mit dem Widerspruch zwischen Bourgeois und Citoyen andeutet. Dabei hat man eine Rollenaufteilung: Der Staat übernimmt mit in seine Idee die Rolle der Verantwortung für das Allgemeine, für die Nation, für das Gemeinwohl, für das Gattungsleben der Menschen, während der Privat-Bürger freigesetzt ist von dieser Verantwortung, solange er sich – mehr oder weniger sophistisch – im Rahmen der Gesetze bewegt, die der Staat im Interesse der Allgemeinheit erläßt. Es ergibt sich durch jene Rollenaufteilung eine strukturell angelegte Diskrepanz zwischen einerseits denjenigen Bürgern, die sophistisch, d.h. mit Hilfe ideologischer Argumentation, den Staat in seinen Allgemeinwohl-Ansprüchen möglichst einschränken wollen [3], weil sie möglichst
willkürlich und unbeschränkt über möglichst viele Güter, Einkünfte und Machtpositionen verfügen wollen. Es ist dies die Bürgerfraktion der Bourgeois, sie wird als politisch konservativ („rechts“) angesehen.
Und andererseits denjenigen Bürgern, die den Staat, vielfach aus eigener „Betroffenheit“, in seinen Allgemeinwohl-Ansprüchen möglichst ausdehnen wollen (z.B. durch Sozialgesetzgebung, Verfassungsartikel zum
Schutz der Umwelt u.dergl.). Es ist dies die Bürgerfraktion der Citoyen. Sie wird üblicherweise als politisch linksstehend angesehen. Dabei zeigt sich, daß die Fraktion der Citoyen – offenbar strukturell
notwendigerweise – höchstens immer nur Teilerfolge erzielen kann: daß sie zwar von der Gemeinwohl-Idee des Staates her „das Eigentliche“ vertritt, jedoch die Fraktion der Bourgeois die eigentliche Macht
im Staate hat. Es sieht ganz so aus, als würde es sich um einen „endless struggle“ im Rahmen der vorgegebenen Struktur des modernen zentralen Verwaltungsstaates [4] handeln, wobei die Bourgeois Konzessionen an die Citoyen machen, und die Citoyen versuchen „Druck“ auszuüben durch Argumente, Proteste, Parteien [5], Gewerkschaften, Streiks,
Massenbewegungen und Aufstände bezüglich des von der Bourgeoisie hart bedrängten Gemeinwohls.
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Im Übrigen stecken praktisch in jedem Gesellschaftsmitglied die beiden Seelen (Bourgeoisseele und Citoyenseele) in
einer Brust - wenn auch bei Jedem in unterschiedlicher proportionaler Verteilung, welche Seele die Oberhand hat und welche unterschwelligen anderen Aspekte ebenfalls existieren. So z.B. deuten die sog.
“Sonntagsreden” auf einen zweiten (‘besseren’) Seelenanteil des Redners hin, der allerdings im Zweifelsfall (im Alltag) unterdrückt bzw. verdrängt wird. [Ergänzung 2006]
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Vgl. dazu dazu auch Dick Howard:
“Aber diese Politik des Willens hatte zur nicht beabsichtigten Folge, daß die zwei Typen von Recht, denen von der <Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte> die Weihen
verliehen wurden, miteinander in Konflikt geraten würden. Entweder würde der Wille des individuellen, privaten und atomistischen <homme> die Grundlage der neuen gesellschaftlichen Beziehungen darstellen, oder
der gemeinschaftliche, öffentliche und gesellschaftliche Wille des <citoyen> wäre Grundlage der neuen politischen Welt. Die Geschichte der Französischen Revolution kann als die Suche nach einem Gleichgewicht
zwischen diesen beiden Willen interpretiert werden, deren Konflikt sich während des ganzen 19. Jahrhunderts und bis in unsere heutige Zeit fortsetzt.” [6]
[1] Im Gegensatz zum feudalen religiösen Staat
[2] es handelt sich um die Schrift „Zur Judenfrage“ 1843, MEW, Bd.1, Berlin (Ost) 1978, S. 347-377
[3] Als Beispiel vgl. den konservativen Widerstand gegen Roosevelts New Deal
[4] der vorwiegend die Interessen der weitgehend bourgeois geprägten sog. Wirtschaft berücksichtigt [Anm. 2006]
[5] Vgl. die Neugründung der Partei die Grünen (1979/80) und der Linkspartei (2005) [Anm. 2006]
[6] Dick Howard: Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, edition suhrkamp, Ffm 2001, S.24. Ursprünglich: The Birth of American
Political Thought, 1763-87, USA 1986. [Ergänzung 2006]
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